Seit Generationen zieht es die Menschen in die Discos und Tanztempel Deutschlands – genauer gesagt seit einem halben Jahrhundert, denn die Disco wird 50! Was verbinden Menschen nicht alles mit Discotheken?
Jeder war schon mal in einer, hat dort seinen ersten Kuss erhalten, seinen Partner für das Leben beziehungsweise nur einiger Nächte gefunden oder einfach einmalig tolle Geschichten mit Freunden in ausgelassener Stimmung erlebt.
Die Erfolgsgeschichte der Discotheken begann im Jahr 1959 – aber nicht in den USA oder Großbritannien: Die weltweit erste Discothek eröffnete vor 50 Jahren in Deutschland. Das Speiselokal „Scotch Club“ in Aachen lief zu damaliger Zeit nicht sehr gut, und so überlegte sich der österreichische Inhaber Franzkarl Schwendinger, sein umsatzschwaches Restaurant kurzerhand in eine „Jockey-Tanz-Bar“ umzuwandeln. Hatten bislang kleine Kapellen mit Live-Musik versucht die Gäste zu begeistern, sollte fortan die Musik von Schallplatten gespielt und die Massen mit radiobekannten Titeln zum Tanzen bewegt werden.
Ein gewisser Klaus Quirini – damals Journalist, der sich über die Musik von Platten vor Ort beschwert hatte und daraufhin von Inhaber Schwendinger aufgefordert worden war, es besser zu machen – griff zum Mikrofon, machte seine erste Ansage „Meine Damen und Herren, wir krempeln die Hosenbeine hoch und lassen Wasser in den Saal, denn ,ein Schiff wird kommen‘ mit Lale Andersen“ und erntete Beifallstürme. Von diesem Zeitpunkt an war Quirini der erste Discjockey in der ersten Disco der Welt, denn er schaffte es durch gekonnte Moderation, ein sicheres Händchen für angesagte Musiktitel und auflockernde Showeinlagen, in die das Publikum einbezogen wurde, die „tote Musik aus der Konserve“ zum Leben zu erwecken.
50 Jahre D.I.S.C.O. – das muss gebührend gefeiert werden: Deutschland feiert die größte Party am 23./24. Oktober 2009 in vielen Clubs- und Discotheken. KIELerLEBEN infiziert Sie mit dem Discofever der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft!
1960er – Cola, Bier … oder raus!
Kiel, Beginn der 1960er Jahre: Es brummte in Sachen Kapellen- und Tanzmusik. Veranstaltungsorte waren über zehn Gesellschaftshäuser in und um Kiel, die an den Wochenenden zum Paartanz baten: darunter der Wintergarten (später Bellavista), die Barberini Bar, die Alhambra-Terrassen, die Waldwiese (später Blauer Bock und Star-Club), Waldesruh, Forstbaumschule und das Ballhaus Eichhof. Dort spielten Kapellen Live-Musik zum Zuhören und Tanzen. „Leblose Musik“ aus der Konserve, also von der Schallplatte, war verpönt.
Ausgegangen wurde überwiegend am Wochenende: Die Veranstaltungen begannen freitags und samstags ab 18 Uhr und endeten nach Mitternacht. Auch sonntags gingen die Kieler gerne in die Tanzläden. Um 16 Uhr wurde bereits vor den Lokalitäten auf die Öffnung gewartet, da der Abend nicht ganz so lange werden durfte. 1964 kam der Star Palast im Karlstal hinzu, der neue Maßstäbe setzte. Sechs Jahre lang gaben sich Stars, wie Jimi Hendrix, Paul Raven (später Gary Glitter), Drafi Deutscher und die Anderen (mit Jürgen Drews), die Instrumente in die Hand. Kiels Studenten gingen in einen Studentenclub, der bereits Ende der 1960er seine Türen im zweiten Stock eines Gebäudes der Legienstraße geöffnet hatte: das Tamen-T. Viele junge Nachtschwärmer hatten nur eines im Kopf: Wie schaffe ich es mit nur einem Bier, den Abend im Tanzladen zu verbringen? Ohne Getränk wurden Gäste schnell von raubeinigen Kellnern nach draußen „gebeten“ – Umsatz war gefragt.
1970er – Siegeszug der Konservenmusik
Ende der 1960er öffneten die ersten echten Discotheken: Tanzläden, die den Bann brachen und Musik von der Schallplatte spielten. Die erste Kieler Disco war das Lollipop, in der Holtenauer Straße/Höhe Hanssenstraße, später folgten das Victory in der Holtenauer Straße/Ecke Kleiststraße, das Vanilla Fudge (später Spectrum) am Dreiecksplatz, das Joy am Alten Markt, das Revolution als Nachfolger vom Star Palast und nicht zu vergessen: das King George, heute Weltruf, in der Langen Reihe. In allen Discotheken ließen Kieler-DJ-Größen, wie Klaus Bunsen oder Gary Mangels, die Plattenteller kreisen. Live-Band-Auftritte fanden einmal am Abend statt, blieben aber einstündige Höhepunkte. Musikalisch waren die damalige, auf Gitarrenspiel mit Gesang basierende, Beat-Musik und vereinzelt auch Rock angesagt. Wer mit dem Hitmix der größeren Kieler Discotheken nichts am Hut hatte, ging ins Abraxas. Die Discothek in der Lerchenstraße (heute steht hier der Sophienhof) war Anlaufpunkt für Hippies, Rocker und Punks. Lange Haare, Parkas, Ledermäntel und Rollkragenpullis rauchten hier den ein oder anderen Joint.
Die Auffangbecken für alle Nachtschwärmer, die nach der Sperrstunde um 1 Uhr noch nicht genug hatten, waren das Marquis und eine Etage darunter das Countdown, das mit riesiger Rakete am Haus, Raupenfahrzeug als DJ-Kanzel und Ölfarben-Projektionen an den Wänden eine spacige Atmosphäre schuf. Die Öffnungszeiten der Discotheken unterschieden sich eminent zu heute: Bereits eine Stunde nach Öffnung um 19 Uhr waren die Discos voll. Wer nach 20 Uhr eintraf, bekam keinen Sitzplatz mehr. Ende der 1970er begann die Geschichte einer heutigen Legende: In der Bergstraße eröffneten kurz nacheinander die ersten Clubs: X2000 sowie Hinterhof. Ein Rowdytum- und Rauschgiftimage sollte in den folgenden Jahren den Schlaf vieler Eltern rauben, die ihre „Kinder“ in der Bergstraße befürchteten.
1980er – das Jahrzehnt des musikalischen Durcheinanders
Ende der 1970er sorgte der Film „Saturday Night Fever“ für eine wahre Discomusic-Welle. Auch Kieler Discotheken, wie das Joy oder das American, nahmen den Trend auf und installierten Scheinwerfer, Punktstrahler und Lichtorgeln, die sich zu Euro-Disco-Liedern drehten. Zu Beginn der 1980er fand die New-Wave-Kultur auch Anhänger in Kiel. Punks, Mods, Ois und Goths bewegten sich in der Bergstraße (Pfefferminz, Simplizissimus und Hinterhof), in der „akuten Zone“ des Error (Holtenauer Straße) und im Roten Salon der Pumpe zu New-Wave- und Synthiepopklängen sowie Progressivem Rock von Gary Numan, Human League oder Ultravox.
Die Baghwan-Discothek Far-Out und das Nachtcafé machten die Eggerstedtstraße am Wochenende zur Partymeile. Der Imbisswagen auf dem kargen Baugrund gegenüber verpflegte die Outdoor-Feiernden, die nicht ins Far-Out konnten, das die Massen anzog: Drinnen wurde stets mit positiver Stimmung und schick gekleideten Gästen bis zur Sperrstunde um 3 Uhr gefeiert. Zu 1980er-Pop und der Neuen Deutschen Welle wurde in der Bar Zentral (Holtenauer Straße/Ecke Schauenburger) und im Ball Pompös (heute MAX) getanzt, das aber den Trend Schallplatte noch nicht vollständig annehmen wollte und weiter überwiegend Live-Konzerte veranstaltete. Schließlich wurde nach durchfeierter Nacht im Musikcafé Flip (heute El Paso) gefrühstückt.
1990er – Siegeszug der Großraumdiscotheken
MAX, Traumfabrik, K7, Seal (später Atrium) – Discotheken mit einem Fassungsvermögen von über 2.000 Menschen kamen Mitte der 1990er Jahre groß auf. In hohen Tanzhallen wurden auf mehreren Flächen im Halbstundentakt die verschiedensten Musikrichtungen rauf und runter gespielt. Und die musikalische Bandbreite war enorm: Aus dem New Wave der 1980er hatten sich mit Umwegen Techno und Dance entwickelt, aus Amerika schwappten Rap- und Hiphop-Einflüsse nach Kiel, aber auch Rock, Pop und Schlager brachten die Musikboxen zum Vibrieren.
Gründe zum Feiern gab es genug: Flirt- sowie Studentenfeten und die 1-Marks-Party wurden zum Kult. Die Clubkultur verschwand aber nicht ganz: In der Bergstraße entwickelten sich Tucholsky und Voltaire zum Ersatz für junge Tanzschulverweigerer, Böll und Hinterhof zogen weiterhin die Rock und Alternative-Szene an. Für kurze Zeit sorgte die Stormarnstraße für Abwechslung: Mitte der 1990er Jahre wurde in der Getränkebörse Broker’s um die Bierpreise geschachert, Clevelander und Jam (später Timex) boten jeweils für maximal 300 Gäste Platz und waren am Wochenende stets überfüllt. Für die frühen Stunden nach 4 Uhr war die Eggerstedtstraße ein sicheres Ziel: Das Velvet hatte das Far-Out beerbt und füllte sich samt Nachtcafé zur Sperrstunde um 4 Uhr.
2000er – Partys in Autohäusern, Fährterminals und anderen öffentlichen Locations
Clubszene und Großraumdiscotheken hatten sich gerade nebeneinander eingespielt, als Ende der 1990er die nächste Locationvariante in Konkurrenz trat – und die war riesig: Autohäuser, Kunstforen, Cafés, Fährterminals, sogar ein Schwimmbad und weitere öffentliche Räumlichkeiten wurden an einem Abend dank sogenannter Off-Location-Partys, wie Blue Club (anfangs Green Club), Pink Pirates, Pralines’n’Cream, Bel Amour oder Dirty Disco, zu Tanztempeln. Auch After-Work-Clubs waren aus Europas Metropolen nach Kiel gedrungen: Das Non-Solo-Pane platzte donnerstags, wie auch heute noch, aus allen Nähten.
Musikalisch pendelten sich eine Vielzahl der Partys bei House und Black ein, die in weniger kommerziellen Stilen zuvor noch Techno sowie HipHop, R’n’B und Rap geheißen hatten und nicht nur im MAX, After Dark und Osho, sondern sogar in den sonst nur RockPop-beschallten Kellern der Bergstraße Einzug fanden. Diese avancierte in den letzten Jahren, Liebhaber des alten Hinterhof und Böll verziehen gequält ihr Gesicht, dank BOND, ease und D.O.N. mehr und mehr zum Ziel der Black-meets-House-Generation, während Orange-Club und der LUNA-Club seit dem Jahrtausendwechsel für Partys jenseits des Mainstreams bis zum Morgengrauen die richtige Adresse sind. Rock- und Indie-Moschern verbleiben da nur das Weltruf, die Räucherei und die Pumpe. Neben der Aufsplittung der Musikstile in unzählige Richtungen sowie dem Paartanz zum Einzelschunkeln, der Erhöhung der Getränkepreise und Eintrittsgelder hat sich vor allem eines geändert: Nach dem Motto „Je später der Abend, desto schöner die Gäste“ füllen sich heutzutage die Discotheken erst nach Mitternacht – dafür gibt es aber auch keine Sperrstunde mehr, sodass die harten Feierwütigen auf die Morgenschicht der Taxifahrer treffen. Auf die nächsten 50 Jahre Discovergnügen in Kiel!
Text: Olaf Ernst