Der Start ins neue Jahr entfacht bei vielen Kieler*innen die Hoffnung auf ein Abflachen der Infektionszahlen. Darüber hinaus hat sich Kiels Oberbürgermeister Dr. Ulf Kämpfer weitere Ziele für eine nachhaltige Landeshauptstadt gesteckt.
KIELerleben: Die Landeshauptstadt Kiel ist 2020 mit dem Nachhaltigkeitspreis ausgezeichnet worden. Hat Kiel nun alles erreicht?
Dr. Ulf Kämpfer: Nein, im Gegenteil. Noch ist Kiel keine nachhaltige Stadt. Von den Kreuzfahrern über den Theodor-Heuss-Ring bis zum Flächenverbrauch und dem Problem der Kinderarmut – all das gehört zu dem Begriff „Nachhaltigkeit“ dazu. Überall müssen wir besser werden. Wir haben diese Anerkennung nicht für den Zustand bekommen, sondern für unser ambitioniertes Vorgehen – in Bezug auf unsere Pläne, aber auch für unsere Erfolge: Unser Unterstützungskonzept „Gaarden hoch 10“, neue Velorouten und das Erreichen unserer Klimaziele. Am Ende waren es die Vielfalt und Breite unseres Handelns, welche die Jury überzeugt haben.
Und dennoch spielt der Schutz der Meere für Kiel sicherlich eine besondere Rolle.
Ja, gerade weil sich hier die Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Stadtpolitik sehr schön miteinander verbinden. Wir haben z. B. das große Forschungsprojekt „CAPTN Kiel“, wo es um smarte, emissionsfreie und autonome Fähren und die bessere Vernetzung aller Verkehrsmittel geht. Hier arbeiten die Fährgesellschaft, die Christian-Albrechts-Universität und die Stadt Kiel mit vielen Partnern Hand in Hand. Wir sind schon Klimaschutzstadt, Landes- und Segelhauptstadt und wollen nun auch Meeresschutzstadt sein. Zentral ist dabei die Schaffung eines digitalen Visualisierungszentrums der Meere.
Worum geht es dabei genau?
Es ist ein Zentrum, in dessen Fokus die Faszination der Meere steht, ihre Verletzlichkeit und ihre Schutzbedürftigkeit. Beim Ocean.Dome im vorletzten Jahr wurde eindrucksvoll gezeigt, welche faszinierenden Möglichkeiten es für die digitale Veranschaulichung gibt. Dank großzügiger Bundesförderung als Smart-City-Modellprojekt können wir nun mit konkreten Planungen beginnen. „Noch sind wir keine nachhaltige Stadt – dafür
müssen wir noch eine ganze Menge tun.“
„Noch sind wir keine nachhaltige Stadt – dafür müssen wir noch eine ganze Menge tun.“
Durch den Nachhaltigkeitspreis hat die Stadt Kiel zwar nicht Millionen Euro Preisgeld bekommen, aber immerhin 30.000 Euro. Was passiert mit dem Geld?
Wir wollen die 30.000 Euro in ein Netzwerk für Bildung für nachhaltige Entwicklung investieren, damit die vielen Initiativen besser vernetzt werden können. Klimaschutz und Nachhaltigkeit können weder dem Einzelnen noch der Politik allein überlassen werden. Für den notwendigen Wertewandel brauchen wir individuellen Wertewandel und mutige politische Entscheidungen gleichermaßen.
Neben Meeres- und Klimaschutz- und Sportstadt bewirbt sich Kiel außerdem als Zero Waste City. Wieso ist das ein so wichtiges Thema für alle Kieler*innen?
Weil das Müllproblem ein doppeltes ist: Mit dem wahnsinnigen Müllverbrauch von 457 Kilogramm Haushaltsabfälle pro Kopf in Deutschland im Jahr 2019 (Statistisches Bundesamt), ist auch die Ausbeutung der Ressourcen, die Bedrohung der Artenvielfalt und der Verbrauch von Energie verbunden. Dass es nicht nur unumgänglich, sondern auch möglich ist, von diesen Zahlen runterzukommen, zeigen der Unverpackt-Laden, die Alte MU mit dem Glückslokal und viele weitere Initiativen. Dabei geht es nicht nur um den Verpackungsmüll, sondern auch um den „Müll“, den wir uns kaufen. Es wäre toll, wenn solche Läden keine Leuchtturmprojekte wären, sondern Normalität werden. Neben der Diskussion um den Müllverbrauch, ist mir jene über das Konsumverhalten und einen generellen Wertewandel in der Gesellschaft besonders wichtig.
Vor zwei Jahren haben Sie darüber gesprochen, dass sich die Holstenstraße in einem „Anpassungsprozess“ bezüglich der horrenden Mieten für Einzelhändler befindet. Tatsächlich haben sich inzwischen einige neue Geschäfte in der Innenstadt etabliert.
Corona ist ein Schlag ins Kontor für den Einzelhandel. Ich gehe davon aus, dass einige Läden aufgeben müssen. Andererseits haben in den letzten zwei Jahren viele kleine und größere Läden neu eröffnet, viele davon stehen für ein nachhaltiges Kiel. Am Holsten-Fleet werden im nächsten Frühjahr mindestens fünf neue Gastronomien entstehen. Wenn wir Corona in den Griff bekommen haben, werden Holsten-Fleet und Bootshafen die neue Mitte Kiels, der place-to-be. Ich bin fest davon überzeugt, die gesamte Innenstadt bekommt damit neuen Schub.
Das Jahr 2020 wird als „Corona-Jahr“ in die Geschichte eingehen. Welche Themen haben die Stadt Kiel aus Ihrer Sicht sonst noch bewegt?
Gerade das zweiten Halbjahr stand im Zeichen der Verkehrsdiskussion. Erfreulich ist, wie sehr das Thema Mobilitätswende angenommen wurde. Wenn es um die konkrete Umsetzung von neuen Fahrradwegen, mehr umweltfreundlichen Verkehr und den ÖPNV geht, gibt es sehr unterschiedliche Meinungen. Der Theodor-Heuss-Ring oder die Kiellinie Nord waren dabei Themen, die emotional aufgeladen waren. Wir haben im vergangenen Jahr nicht nur die Fahrradinvestitionen verdoppelt, sondern auch einen entscheidenden Schritt in Richtung Stadtbahn gemacht – das war mir persönlich ein wichtiges Anliegen.
Das heißt konkret?
Wir haben einen Planungsauftrag in Höhe von sieben Millionen Euro an die Firma Ramboll vergeben. Diese untersucht die Machbarkeit und den möglichen Trassenverlauf sowohl für eine Straßenbahn als auch für ein Bussystem auf eigener Spur.
Bezahlbarer Wohnraum ist ein ebenso emotional aufgeladenes Thema, welches sicherlich auch in 2021 interessant in Kiel bleiben wird?
Richtig. Das wird eines der zentralen Themen auch über 2021 hinaus bleiben. Wir werden in diesem Jahr rund 1.800 Baugenehmigungen für Wohnungen erteilen. Das hat es seit vielen Jahrzehnten nicht gegeben. Es ist ein wichtiges Signal, dass die Kieler Wohnungsbaugesellschaft ihre Arbeit aufgenommen hat. Ich glaube, dass Kiel und die Kiel-Region weiterhin Menschen anziehen werden. Und wenn Wohnen bezahlbar bleiben soll, brauchen wir mehr Wohnraum. Was das Thema Digitalisierung angeht, haben wir auf Bundes-, Landes- und EU-Ebene 2020 rund 20 Millionen Euro eingesammelt. Wir haben viele ambitionierte Projekte, in einigen Bereichen allerdings auch Nachholbedarf.
„Wenn es in der Innenstadt niedrigere Mieten geben würde, wären wohl viele Leerstände schnell verschwunden. Da muss der eine oder andere Vermieter noch in der Realität ankommen.“
In 2021 entscheiden wir über das Gesicht der Stadt: Es gibt städtebauliche Wettbewerbe zur Umgestaltung der Innenstadt, zur Kiellinie und für das MFG5-Gelände. Diese drei Projekte stehen stellvertretend für die Diskussionen, in was für einer Stadt wir in Zukunft leben wollen und die wir im Rahmen des Zukunftsprozesses 2042 führen.
Wenn Sie sich für 2021 etwas wünschen dürften, was wäre das?
Also der erste Wunsch betrifft die Corona-Pandemie. Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, die Kieler*innen zu schützen. Trotz allem sind wir in 2020 vergleichsweise gut durch die Krise gekommen. Ich hoffe, dass wir nach dem harten Lockdown auf einen Pfad kommen, der kontinuierlch in Richtung Lockerungen führt und wir nicht wie bisher einen Schritt vor und zwei Schritte zurück machen müssen. Wenn wir die gesundheitliche Krise in den Griff bekommen, dann stellt sich die Frage, wie lang die wirtschaftliche und soziale Bremsspur sein wird. Um viele Betriebe, Geschäfte und Restaurants mach ich mir Sorgen. Wir werden alles versuchen, um die finanzielle Unterstützung für Sportvereine, genauso wie für Unternehmen, so gut wie möglich zu organisieren.
„Alles passiert in einer Krise, aber keine Perfektion.“
Nicht alle ziehen mit, wenn es um die Einhaltung der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie geht. Was halten Sie Corona-Leugnern und Verschwörungstheoretikern entgegen?
Dass es wichtig ist, eine klare Grenze zwischen dem notwendigen Streit über den besten Weg durch die Krise und dem blinden „Nachplappern“ von grotesken Verschwörungen und Diffamierungen zu ziehen. Letzteres ist Gift für die Demokratie. Der Inzidenzwert lag in Kiel lange unter dem landes- und bundesweiten Durchschnitt.
Welchen Anteil hat die Stadt Kiel daran?
Auch wenn wir häufig vor allem Entscheidungen der Landesregierung umsetzen, bleibt ein nicht unerheblicher Anteil des Krisenmanagements auf lokaler Ebener zu leisten. Ich bin froh, wie gut Gesundheitsamt, Krankenhäuser, Pflege- und Bildungseinrichtungen zusammenarbeiten. Von der Kontaktverfolgung bei Infektionen bis hin zu Initiativen wie „Kiel Hilft Kiel“ kommt es entscheidend darauf an, was vor Ort passiert. Hier hat Kiel aufopferungsvoll und mit hoher Professionalität zusammengehalten.
Ein Grußwort vom Oberbürgermeister Dr. Ulf Kämpfer:
„Es war ein besonderes Jahr und für viele ein besonders schwieriges Jahr. Ich hoffe für uns alle, dass wir uns Stück für Stück die Normalität zurückerkämpfen. Das schaffen wir nur Hand in Hand. Bis dahin wünsche ich allen ein frohes, erfolgreiches und vor allem gesundes neues Jahr 2021.“