Wer hätte das vor der Spielzeit 2018/2019 gedacht? Holstein Kiel landet am Ende der Saison auf einem sehr guten sechsten Tabellenplatz. Sogar um einen der begehrten Aufstiegs- und Relegationsplätze kämpften die Störche zwischenzeitlich.
Im Sommer 2018 machte sich die Lethargie nach einer erfolgreichen Saison Holstein Kiels in der 2. Fussball Bundesliga breit, in der dem Team um ein Haar der Aufstieg in die 1. Bundesliga gelungen wäre.
Neben Trainer Markus Anfang verließen die Leistungsträger Rafael Czichos, Dominik Drexler und Torschützenkönig Marvin Ducksch die Störche in Richtung Köln und Düsseldorf. Nicht zuletzt verabschiedete sich Sportdirektor Ralf Becker, der beim Ligakonkurrenten Hamburger SV seine Arbeit aufnahm. Mit Fabian Wohlgemuth, ehemaliger Leiter der Nachwuchsabteilung und Chefscout des VFL Wolfsburg, wurde ein neuer Sportdirektor schnell gefunden. Der Diplom-Kaufmann unterschrieb in Kiel einen Dreijahresvertrag und blickte zuversichtlich auf seine erste Spielzeit als KSV-Sportchef. Bereits während der ersten Spiele bewies Wohlgemuth ein feines Gespür bei der Suche nach Neuzugängen.
Aktuell sieht es so aus, als würden sich die Ereignisse aus dem Sommer 2018 wiederholen. Sportdirektor Wohlgemuth steht vor der erneuten Aufgabe, eine Mannschaft zusammenzustellen und einen geeigneten Trainer zu verpflichten.
Fest steht: Coach Tim Walter wird die KSV nach nur einem Jahr an der Förde in Richtung VFB Stuttgart verlassen. Kingsley Schindler folgt seinen Ex-Kollegen Rafael Czichos und Dominik Drexler zum 1. FC Köln und David Kinsombi wird nach der Sommerpause für den Hamburger SV auflaufen. Darüber hinaus wird Torhüter Kenneth Kronholm in die Vereinigten Staaten zu Chicago Fire wechseln – dem aktuellen Arbeitgeber von Bastian Schweinsteiger.
Bis zum Ende des Transferfensters am
3. September hat Fabian Wohlgemuth noch eine Menge Arbeit vor sich. Und die Gerüchteküche brodelt bereits. Wir haben mit dem Sportdirektor vor seinem zweiten Holstein-Jahr gesprochen.
KIELerleben: Herr Wohlgemuth, die Wenigsten hätten vor der Saison gedacht, dass die KSV Holstein Kiel wieder mit um den Aufstieg zur 1. Bundesliga spielt. Wie ordnen Sie die Spielzeit 2018/2019 aus sportlicher Sicht ein?
Fabian Wohlgemuth: Die Voraussetzungen im Sommer 2018 gaben in der Tat eine allzu optimistische Prognose nicht her; der personelle Umbruch im Sommer, die neue Spiel-idee von Trainer Tim Walter, eine sehr durchwachsene Sommervorbereitung, dazu die enorme Erwartungshaltung durch das phänomenale Abschneiden im Vorjahr. Was die Mannschaft dann in der Saison 2018/19 sportlich über 34 Spieltage auf den Rasen gebracht hat, ist vor diesem Hintergrund schon bemerkenswert. Eine erfrischende Spielidee mit dem zweitjüngsten Kader der Liga, die in ganz Fußball-Deutschland Beachtung fand. Die drittbeste Offensive mit 60 geschossenen Toren. Bis zum 31. Spieltag im Kampf um die Aufstiegsplätze dabei.
Wie lassen sich die Leistungen der Neuzugänge Jae-Sung Lee, Rückkehrer Hauke Wahl und Janni Serra bewerten?
Lee ist ein absoluter Ausnahmespieler und wir sind glücklich, ihn nach Kiel gelotst zu haben. Er hatte über die gesamte Saison eine hohe Belastung zu bewältigen. Neben den Spielen für die südkoreanische Nationalmannschaft, inklusive Reisestrapazen, musste er sich an die europäische Kultur gewöhnen, die deutsche Sprache lernen und sich in eine neue Mannschaft integrieren. Daher bin ich davon überzeugt, dass er in seiner Entwicklung in der kommenden Saison noch mal einen großen Schritt machen wird. Den beiden Neuzugängen Hauke Wahl und Janni Serra kann man – wie allen der insgesamt 18 Neuzugängen – attestieren, dass sie sich in kürzester Zeit in Kiel eingelebt und zusammen mit den etablierten Spielern der letzten Saison zu einer homogenen Mannschaft gefunden haben.
Nach außen macht das Team einen sehr ausgeglichenen Eindruck. Hat sich die Stimmung innerhalb der Mannschaft aufgrund der wachsenden Ansprüche an sich selbst während der Spielzeit verändert?
Im Sommer sind wir mit 14 neuen Spielern, einem neuen Trainer und mir als neuen Sportdirektor gestartet. Es hat eine gewisse Zeit gedauert, bis sich aus dieser Gruppe ein homogenes Team mit den notwendigen Hierarchien bilden konnte. Dazu kam die anspruchsvolle Spielkonzeption von Tim Walter. Die positiven Ergebnisse im ersten Drittel der Saison haben uns auf diesem Weg zweifelsohne in die Karten gespielt. Die Mannschaft konnte das nötige Selbstvertrauen und in der Folge auch ein Selbstverständnis für diesen besonderen „Walter-Stil“ aufbauen. Phasenweise wurde begeisternder Offensiv-Fußball gespielt. Erfolge schweißen zusammen und motivieren. Nicht nur innerhalb des Teams, sondern im gesamten Verein, bei den überragenden Fans, in der ganzen Stadt. Auch wenn uns am Ende eine kleine Schwächeperiode eine noch bessere Platzierung gekostet hat, schauen wir zurück auf eine Saison, auf die wir alle stolz sein können.
Wird es in der kommenden Saison erneut um den Aufstieg gehen?Es geht für Holstein Kiel immer und in erster Linie um gesundes, solides Wachstum. Eine unrealistische Erwartungshaltung kann das gesamte Projekt gefährden. Der gesamte Verein muss in all seinen Strukturen mitwachsen. Wir haben im abgelaufen Spieljahr zweifelsohne erneut unser großes sportliches Potenzial gezeigt. Aber wir erweisen Holstein Kiel keinen Gefallen darin, auf Krampf zwei Schritte auf einmal zu nehmen und die Balance zu verlieren. Andere Vereine dienen uns hier als warnendes Beispiel. Für Holstein Kiel stehen ganz klar die Etablierung in der zweiten Liga, das wirtschaftliche Wachstum, die infrastrukturelle Optimierung und personelle Professionalisierung im Vordergrund.
In den vergangenen Wochen hatte man den Eindruck eines vorgezogenen Sommerschlussverkaufs in Kiel. Wie wird den gewachsenen sportlichen Ansprüchen in Kiel versucht gerecht zu werden?Teil unserer sportlichen Realität ist, dass wir als Verein, der aus wirtschaftlicher Sicht auch auf Transfererlöse angewiesen ist, Spieler besonderer Qualität, wie zum Beispiel Atakan Karazor oder David Kinsombi frühzeitig wieder abgeben müssen. Wir stecken aktuell mitten in der Kaderplanung für die neue Saison, gehen gewohnt strukturiert und unaufgeregt an diese Aufgabe heran. Wir knüpfen strategisch und inhaltlich an den Grundlagen an, die im letzten Jahr gelegt wurden. Unser Ziel ist es, die Abgänge nicht nur einfach zu ersetzen, sondern über eine kluge Transferpolitik den Kader ständig mit Qualität anzureichern.
Wie steht es um eine Verpflichtung von Leihspieler Masaya Okugawa?
Jetzt, nach Ende der Saison, musste Masaya Okugawa, genauso wie im Übrigen auch alle anderen Leihspieler (Honsak, Bénes und Seydel – die Red.), wieder zurück zu ihren Heimvereinen. Erfahrungsgemäß werden Leihgeschäfte eher im letzten Drittel der Transferperiode möglich, wenn ein Teil der Sommervorbereitung absolviert ist und sich die Kader herauskristallisieren. Von daher kann ich hier aktuell keinen neuen Stand vermelden.
Gibt es bereits konkrete Planungen oder Gespräche mit potenziellen Neuzugängen?
Wir beschäftigen uns grundsätzlich über die gesamte Saison mit dem Thema der Kaderarchitektur. Natürlich genießt die Kaderplanung der neuen Saison seit einigen Wochen besondere Priorität. Das Transferfenster schließt erst am 2. September. Wir arbeiten gewohnt strukturiert und mit der gebotenen Ruhe und Sachlichkeit an dem Thema und werden zur gegebenen Zeit mit Fakten an die Öffentlichkeit gehen.
Das Interview führte
Sebastian Schulten