Lukas Paetzold (28) hat es geschafft. Er gehört zu den Musikern, die eine Festanstellung im Philharmonischen Orchester Kiel ergattern konnten. Doch bis es dazu kam, bedurfte es neben seinem Talent und viel Arbeit vor allem der nötigen Ruhe im entscheidenden Moment.
Sein Puls rast und der Blutdruck steigt, Muskeln verkrampfen und seine Hände sondern kalten Schweiß ab im Angesicht des Todes. Vor einigen tausend Jahren versteckt sich ein Ahne des Homosapiens im hohen Gras, konzentriert sich und wartet den günstigen Moment ab, um sich seiner Angst zu stellen, in den Angriffsmodus zu schalten und seinen tierischen Feind im Blutrausch zu erlegen. Während es zu Urzeiten wilde Riesenkatzen mit messerscharfen Schneidezähnen waren, die den Menschen dem Tode ins Auge blickend den Angstschweiß auf die Stirn trieben, gehören heute Prüfungssituationen in schlecht durchlüfteten Klassenzimmern oder eben Konzertsälen zum Erwachsenwerden dazu. Die strengen Blicke der Lehrer*innen und Fachjurys an den Hochschulen rufen ganz ohne fletschende Reißzähne trockene Münder und ausbleibenden Speichelfluss bei den Prüflingen hervor.
A wie Arbeit und Akribie
Lukas Paetzold (28) hat eine ganze Reißzahn-Odyssee hinter sich: Auf seinem Weg zur Festanstellung als Schlagzeuger im Philharmonischen Orchester Kiel stellte er sich während seines Studiums an der Musikhochschule Hannover (HMTMH) und der Hanns-Eisler-Musikhochschule Berlin in mehr als 30 Vorspielen in der ganzen Bundesrepublik regelmäßig seinen persönlichen Säbelzahntigern, lernte mit seinen Ängsten umzugehen und im entscheidenden Moment die Nerven zu behalten. Ganz ohne zusätzliches Training für mentale Stärke ging es jedoch nicht.
Seit seinem sechsten Lebensjahr trommelt Lukas auf seinen Drumsets herum, spielte schon in jungen Jahren in Jugendorchestern, wie dem Landesjugendorchester Niedersachsen, dem Bundesjugendorchester und später als Student in der jungen deutschen Philharmonie mit, und fuhr mit diesen auf Tourneen. Weit entfernt von einem bezahlten Musikerdasein wusste der junge Lukas jedoch schon damals, dass dies genau sein Ding ist und verfolgte in der Zeit ab dem 14. Lebensjahr dieses immer vehementer.
„Ich wollte mit meinen Leistungen nicht hinten anstehen und habe im Sommer 2007 geübt wie ein Irrer“, sagt Lukas.
Er sah, wie seine Kolleg*innen in den Jugendorchestern an ihren Techniken und Melodien feilten und begann daraufhin eine Art Selbststudium – bis zu fünf Stunden an sieben Tagen in der Woche. Während andere Jugendliche mit Freunden im Freien „rumhingen“ und das Leben feierten, verbarrikadierte sich Lukas in seinem Zimmer und „hat die Noten gefressen“, wie er selbst sagt. Neben dem klassischen Drumset mit Bass-Drum, Snare, High-Hat etc., beherrscht Lukas außerdem das Spiel der Pauke, die so genannten „Mallets“ – also alle Stabspiele wie Glockenspiele, Xylophon, Marimba und Vibraphon – sowie die Orchesterinstrumente Große Trommel, Becken und auch die Triangel, die zwar einen schlechten Ruf genießt, der jedoch eine hohe Bedeutung zukommt, da sie ein perfektes Timing voraussetzt.
Prägende Zeit
Ja, Schlagzeuger spielen nach Noten. Im Ernstfall, also bei einem Vorspiel für eine zu besetzende Stelle in einem professionellen Orchester, tun sie dies allerdings nur wenige Sekunden. „Sobald das Timing nicht stimmt, ein Schlag zu spät ausgeführt wird oder ein falscher Ton gespielt wird, ist es vorbei“, berichtet Lukas heute von seinen Erfahrungen der letzten Jahre. Prägend waren für den jungen Musiker die vielen Praxiserfahrungen während der Auftritt mit dem Niedersächsischen Landesorchester oder den Vorspielen beim Bundesjugendorchester. Doch ob es für Lukas auch ohne ein sogenanntes „Frühstudium“ während des Abiturs mit Musikstudium geklappt hätte, bezweifelt er heute zumindest stark. Neben der Zeit, die Lukas am Schreibtisch für das Pauken für die Allgemeine Hochschulreife aufwendete, verbrachte er einige Stunden in den Waggons der Deutschen Bahn.
Zwei Jahre lang pendelte er freiwillig (an den Wochenenden) von Oldenburg (Niedersachsen) nach Hannover, wo Lukas am „Institut zur Früh-Förderung musikalisch Hochbegabter“ (IFF) auf das eigentliche Musikstudium an einer Hochschule vorbereitet wurde. Hier erlernte er, neben dem Schlagzeugspielen, weitere Techniken, um physischen Erkrankungen wie Sehnenscheidenentzündungen vorzubeugen oder schlicht die Nerven zu behalten. Der Druck, denen sich angehende Musiker*innen in den harten Prüfungen unterziehen müssen, ist brutal. Um in diesen Momenten eine ruhige Hand zu behalten und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, werden die angehenden Student*innen unterrichtet.
Ab durch den Flaschenhals
Während des eigentlichen Studiums von 2011 bis 2019 an der HMTMH und der Hanns-Eisler-Hochschule, erhöhte Lukas erneut das Trainingspensum. Neben der Musiktheorie belegte der Schlagzeuger Kurse zur Musikgeschichte und trommelte sechs bis acht Stunden die von seinen Dozent*innen aufgetragenen Etüden – kurze Passagen aus den Werken historischer musikalischer Größen. Seine autogenen Trainings haben ihm dabei geholfen, die Prüfungssituationen zu überstehen und sollten sich auch wenig später noch auszahlen. 2019 war die freie Stelle eines Schlagzeugers bei den Kieler Philharmonikern ausgeschrieben. Lukas bewarb sich als einer von rund 50 vorspielenden Mitbewerber*innen.
Sobald er das mehrstufige Auswahlverfahren hinter sich brachte, benötigte er noch die mehrheitliche Zustimmung des Orchesters und schließlich die des Generalmusikdirektors Benjamin Reiners – und dann war es so weit. Lukas hatte es geschafft und bis heute die einjährige Probephase überstanden. Wenn er sich heute vor sein TAMA-Drumset setzt, Schlägel oder Becken platziert und das Fell auf der Pauke auf seine Stimmung kontrolliert, geht er das Konzert vor seinem geistigen Auge schon einmal durch. Im Gegensatz zur Angst, der er sich bei den vielen Vorspielen ausgesetzt sah, überwiegt heute die Freude darüber, sein liebstes Hobby aus Jugendzeiten endlich zum Beruf gemacht zu haben.
Für den Ernstfall gewappnet
Mittlerweile ist es der Montag vor dem „PhilKo 0 Konzert“ des Philharmonischen Orchesters in der Wunderino-Arena. Die Musiker*innen treffen sich eine Woche lang, um die Generalprobe für das kommenden Konzert vorzubereiten. Hier wird noch jede Menge umgebaut, Lautsprecher werden angeschlossen und die Bühne für das Konzert vorbereitet. Schließlich wird das Orchester drei Jahre lang nicht wie gewohnt im Kieler Schloss spielen, sondern die Mehrzweckhalle in Kiels Zentrum sein Wohnzimmer nennen dürfen. Auch Lukas ist bereits eine halbe Stunde vor Probenbeginn vor Ort, baut seine Trommeln auf, justiert die Becken an den richtigen Stellen und legt sich seine Schlegel zurecht, mit denen er einen Teil seines Schlagwerks bedienen wird. Das ist sein ganz persönliches Ritual und eine der Techniken, Tipps und Tricks, die er während des Studiums erlernte. Angst verspürt er dabei keine mehr, schließlich haben die vielen Jahre der Studiums ihre Spuren hinterlassen.