Hühner entwickeln sich zum „Next Big Thing“ für Familien. Zwei Heikendorfer Gärten werden zum Laufsteg für die gackernden Federtiere, die einen sinnstiftenden Zweck für ihre Besitzerinnen erfüllen.
Trude, Peppa, Polly und Lena flitzen flügelschlagend über den Rasen von Esther Berlins 80 Quadratmeter großem Garten im Kieler Vorort Heikendorf. Henriette und Lille ergänzen das Hennen-Sextett, das sich mit ein bisschen Körnerfutter anlocken, füttern und streicheln lässt. Schorsch ist der Hahn im Korb. Er wacht über seine Hennen, schützt sie vor ungebetenen Gästen und kräht Familie Berlin früh morgens aus dem Bett. Noch dürfen sich die Hühner auf der gesamten Fläche frei bewegen, sie haben einen abgesteckten Rückzugsort inklusive Hühnerklappe mit Zeitschaltuhr für ihren Schönheitsschlaf. Zum Frühjahr hin ist Schluss mit lustig. Dann umfasst das Hühnergehege lediglich rund 50 Quadratmeter der Gesamtfläche. Die Kinder der Berlins können dann gemeinsam mit den Hühnern im Garten spielen, ohne in deren Hinterlassenschaften zu treten.
Seitdem Esther ihre neuen Tiere vor einem Jahr bei sich aufnahm, sitzt sie regelmäßig auf ihrer Terrasse und beobachtet von dort aus das rege Treiben ihres geflügelten Geschwaders. Angefangen hatte alles mit dem Wunsch der Kinder nach einem Haustier. Für das Halten von Hunden reichte den Berlins die Zeit nicht. Es musste schon eine unkomplizierte, pflegeleichte Lösung her. Ein Nachbar brachte die Familie auf die Idee, Hühner im eigenen Garten zu halten – ein idealer Kompromiss, welcher den Berlins heute einen Mehrwert bietet.
„Für mich sind die Hühner mehr als nur Nutztiere, sie tragen
zu meiner Entschleunigung bei“,
sagt Esther.
„Sie tragen zu meiner Entschleunigung bei.“ Dem Stress der Stadt entfliehen, die Hektik der Zeit einfach ausblenden – all das sind Eigenschaften, welche die die kleinen flauschigen Tiere in uns Menschen auslösen. Und damit ist Esther längst nicht allein. Ursprünglich kaufte sie drei Hühner – für jedes ihrer Kinder eins. Schon kurze Zeit später meldeten sich Freunde und Verwandte, die ebenfalls an der Haltung einer Henne oder eines Hahns interessiert waren. Nur mit dem nötigen Platz konnten die Hobby-Hühnerhalter nicht dienen. Darauf nahm sich Esther dreier weiterer Tiere an, gab ihnen ein Dach über dem Kopf.
Happy Hühnergarten
Aber wie hält man eigentlich Hühner? Und: kann beziehungsweise darf das jeder tun, der die Lust am Huhn für sich entdeckt? Pfiffige Autoren erkannten die Problematiken, denen sich angehende Geflügelhalter ausgesetzt sahen, bereits vor rund zwei Jahren. Auf den einschlägigen Versandportalen im Internet finden sich auf Anhieb über ein Dutzend Werke mit aussagekräftigen Titeln wie „Garten sucht Hühner“, „Vom Glück mit Hühnern zu leben“ oder „Happy Hühnergarten“. Irgendwie aber auch logisch: Schließlich leben wir in Zeiten, in denen wir vermehrt auf eine bewusste Ernährung setzen.
Es stellt sich nicht die Frage ob, sondern wann der Veggie-Day von Paaren Ü30 in der Woche stattfindet und welcher Fleischersatz wirklich die Entgiftung des Körpers fördert. Ebenso folgerichtig kann es nur sein, wenn ein weiteres Genre Einzug in die Bücherregale eben jener Ü30-Paare erhält: „Ratgeber-Literatur für Hühnerhaltung“.
Dass die Sehnsucht nach Entschleunigung und die Suche nach dem Glück im eigenen Garten offenbar ei- nen Nerv bei vielen Menschen traf, merkt auch Philipp Wulff, Angestellter der Raisdorfer Mühle. „Wir haben in der letzten Woche wieder eine Lieferung erhalten, in dieser Woche sind die Hühner fast ausverkauft“, sagt Wulff. Tierhandlungen erleben seit einiger Zeit einen wahrhaftigen Run auf Geflügel. Alle zwei Wochen beliefert ein Händler die Mühle mit 400 Hühnern. Die Jungtiere sind zwischen 15 und 20 Woche alt. Kosten pro Huhn: 12,50 Euro. Seit zwei Jahren sei die Nach- frage nach den Tieren merklich angestiegen. Fünf bis zehn Tiere verkauft der Betrieb in der Regel pro Nase. Familie Berlin ist mir ihren tierischen Mitbewohnern also repräsentativ für die Stichprobe.
„Hühner legen in der Winter weniger Eier als in den warmen Sommermonaten“,
sagt Esther.
Zurück in Esthers privatem Tierreich: An diesem Donnerstagnachmittag öffnet Esther die Klappe des überdachten Stalles. Sie findet drei Eier, liebevoll eingebettet in das Stroh, mit dem der Stall reichlich ausgelegt ist. Sicher entnimmt Esther die Eier und legt sie in den Kühlschrank für den nächsten Morgen. Vieles über artgerechte Tierhaltung angelesen hat sie sich nicht. Im Gegenteil: Wenn Esther Fragen hat, kontaktiert sie Freunde und Bekannte, die ebenfalls „in Hühner machen“. Learning by Doing lautet ihr Motto, durch welches ihr so manches Mal ein Ei... ähm... Licht aufging. „Ich dachte, dass Hühner immer gleich viele Eier über das Jahr verteilt legen“, gibt Esther zu. Schließlich würden die Regale in den Supermärkten ihr diesen Eindruck vermitteln. Im Laufe des vergangenen Jahres wurde sie eines Besseren belehrt und weiß heute: Hühner legen im Winter weniger Eier als in den warmen Sommermonaten. Schlagartig wurde ihr klar, welch einen Einfluss er Mensch durch sein künstliches Eingreifen in das Leben der Tiere hat.
Verflixte Mogelpackung
Wenn Esther heute in den Supermarkt geht, betrachtet sie ihren Einkauf mit anderen Augen.
Häufig trifft sie hier auf ihre Freundin Anke Nehter. Seit Oktober geht es in den Small-Talks zwischen Backwaren- und Frischeregal allerdings nicht mehr um die gleichaltrigen Kinder, das vegetarische Mittagessen oder die Gesundheit ihrer Ehemänner. Seit einem halben Jahr ist Anke stolze Besitzerin von zwei Zwerghühnern und zwei „Showgirls“ – einer Kreuzung aus Seiden- und Nackthalshuhn. „Ich habe schon wieder einen Hahn abzugeben“, sagt Anke ein wenig enttäuscht zu Esther. Als sie sich die Hühner, ebenfalls auf Wunsch ihrer Kinder zulegte, wollte sie eigentlich auf einen Hahn verzichten – aus Rücksicht vor den Nachbarn. Jedes der drei Hühner entpuppte sich jedoch als männliches Exemplar.
Das Problem: sind die Tiere erst wenige Wochen alt, lässt sich ihr Geschlechtnicht eindeutig bestimmen. Erst mit dem Wachsen eines Kamms und des Gefieders wird deutlich, dass es sich um ein männliches Tier handelt. Bei Anke ist dies bereits zum dritten Mal der Fall. Sie tauschte die Tiere bei ihrem Händler, dem Wildpark Schwentinental, ge- gen drei neue Jungtiere. „Ich habe mir die Showgirls nicht ausgesucht, das war reiner Zufall“, sagt Anke. Den Anstoß zur Hühnerhaltung hat sie ihrer Freundin Esther zu verdanken. Diese redete ihr positiv zu, stimmte sie auf den verantwortungsvollen Umgang mit den Tieren und schilderte die angenehmen Seiten der Hühner für die Familie. Viele Essensreste müssten nicht mehr weggeschmissen werden, das würden die Tiere schon erledigen, berichtete Esther an Anke. Letztere ist auf einem Hof aufgewachsen und kennt das Zusammenleben mit den Tieren. Vor ein paar Jahren hat sie sich das Leben in der Vorstadt mit Showgirls im Garten allerdings noch nicht vorstellen können. Ihre Kinder und das Familienleben änderten dies.
„Ich beobachte meine Showgirls täglich wie sie in ihrer Formation schützend durch den Garten rennen“,
sagt Anke.
Sie seien unzertrennlich und sehr soziale Tiere. Die Zugänge zum Garten stehen an beiden Seiten des Hauses rund um die Uhr offen. Penny, Tilda, Nia und Polly, so heißen die Showgirls und Zwerghühner, laufen Anke weder weg, noch verirren sie sich in benachbarten Grundstücken. Sie suchen vielmehr den Kontakt zu Anke, wenn diese in der Küche steht. In ihrem Augenwinkel bemerkt sie, wie ihre Showgirls sie von der anderen Seite der Glastür bei der Arbeit beobachten. Suchen ihre Girls die Nähe zum Menschen oder beruht die Neugier auf das Leben der jeweils anderen Spezies sogar auf Gegenseitigkeit?
Rund ums Huhn
Anders als Esther griff Anke zur bereits erwähnten Ratgeber-Literatur, noch bevor sie die Tiere bestellte. In „Hühnerglück in meinem Garten“ informierte Anke sich über die Grundlagen der Federtierhaltung. „Nach der Lektüre habe ich mich noch mehr auf meine Hühner gefreut“, sagt sie. Sie habe viele praktische Tipps und Einblicke in das Leben mit Hühnern erfahren. Eine automatische Hühnerklappe ist nämlich richtig praktisch, nicht nur zum Schutz vor Raubtieren wie Katzen, Mardern und Füchsen. Sie erleichtert Hühnerhaltern den Alltag, öffnet und schließt die Klappe zum Hühnerstall ganz automatisch zu einer festgelegten Uhrzeit. Vor allem an den Wochenenden kann es lästig sein, im Morgengrauen in den Garten zu stapfen und die Tür des Stalls öffnen zu müssen. Ein anderer Punkt ist die Hygiene. Einmal in der Woche reinigen Anke und Esther ihre Ställe und desinfizieren sie. Ist dieser nicht ausreichend sauber, nistet sich gern die Rote Vogelmilbe in den Ställen ein. Sie ist der größte Feind der Tiere und kann sogar tödlich sein. Das Corona-Virus der Hühnerwelt sozusagen.
Wie schmerzlich dies enden kann, musste Esther erfahren, die sich eine Woche lang um ihr Huhn Chicaletta gekümmert hat. Sie nahm das Tier in ihren Haushalt auf, pflegte es, fütterte sie mit Schmelzflocken. „Leider hat sie es nicht geschafft und ist im Kreise der Familie verstorben“ sagt Esther. Hühner sind eben mehr als nur ein Nutztier.