Eine kleine Handreichung für Anfänger:innen und ein Gespräch mit Sopranistin Adèle Lorenzi-Favart.
Viele Menschen haben Angst vor der Oper. Oder zumindest eine gewisse Art von Scheu. Denn viele kennen Opern oder auch klassische Konzerte nur aus Filmen, in denen Menschen dann im feinen Zwirn stocksteif in ihren Stühlen sitzen, andächtig lauschen und wissend nicken. Dabei ist gerade die Oper viel zugänglicher als die meisten glauben mögen. Denn anders als im Orchesterkonzert, in dem es in aller Regel nur die Musik gibt, passiert in der Oper etwas auf der Bühne und es werden Geschichten erzählt. Manche hochdramatisch und traurig, andere lustig und unterhaltsam, wieder andere mindestens aus heutiger Sicht so absurd, dass sie eigentlich Stoff für eine Seifenoper wären.
Wenn du schon länger überlegst, der Oper mal eine Chance zu geben, ist die noch laufende Spielzeit der Oper in Kiel wie gemacht für dich! Nicht nur, dass mit „Die Zauberflöte“ eine sowohl inhaltlich als auch musikalisch zugleich tolle wie leicht zugängliche Oper auf dem Programm steht. Nein, mit „König Roger“ und „Iolanta“ werden auch zwei recht kurze Opern aufgeführt, was die Hemmschwelle vielleicht noch weiter senkt.
Mit der Sängerin der titelgebenden Hauptfigur aus Tschaikowskis „Iolanta“, Adèle Lorenzi-Favart, haben wir uns getroffen, um mehr über das Leben einer Opernsängerin, aber eben auch die Oper ganz allgemein zu erfahren.
Die junge Französin entstammt keiner Musiker:innen-Familie, entdeckte aber schon früh das Singen für sich. Sie lernte erst 12 Jahre lang Klavier, bevor sie den Weg einer professionellen Sängerin einschlug.
Vor dem Gesang allerdings kommt die Sprache. Denn Opern werden heutzutage meist in der jeweiligen Originalsprache aufgeführt. Das war jedoch lange nicht so. Noch bis etwa zur Hälfte des vorigen Jahrhunderts war es weitverbreitet, übersetzte Versionen aufzuführen. Also Verdi-Opern in Deutschland auf Deutsch und Wagner-Opern in Italien auf Italienisch. Gleichwohl gab es aber auch schon immer Opernhäuser, die vorwiegend originalsprachlich aufführten. Ein Beispiel, dem heutzutage die meisten Opern folgen. Damit das Publikum den Inhalten trotzdem folgen kann, werden die Aufführungen zumeist übertitelt. Das heißt: Auf Bildschirmen, Laufbändern oder Projektionsflächen stehen zusammengefasste Versionen des Gesungenen in der jeweiligen Landessprache des Aufführungsortes zu lesen. Traditionell über oder neben der Bühne, in moderner ausgestatteten Häusern auch auf Bildschirmen, die in die Rückenlehne des jeweiligen Vordersitzes eingelassen sind.
Für diejenigen auf der Bühne ist der Job dadurch allerdings merklich anspruchsvoller geworden. Adèle singt die Iolanta beispielsweise weder in ihrer Muttersprache, noch auf Deutsch, der Sprache der Oper Kiel, sondern auf Russisch.
Kielerleben: Adèle, wie schwer ist es, in so vielen fremden Sprachen zu singen?
Adèle: Mir ist wichtig, eine Oper nicht nur singen zu können, sondern sie auch wirklich zu verstehen. Wenn ich auf der Bühne singe, dann muss ich die Bedeutung der Worte kennen. Ich habe auch gelernt, kyrillisch zu lesen und kenne die Regeln der Betonung, beherrsche aber die Grammatik nicht wirklich. Gerade Russisch möchte ich aber noch gründlicher lernen. Die russische Sprache ist für mich eine so sinnliche und romantische – und es ist eine sehr gute Singsprache. Ich weiß nicht warum, aber es ist eine Sprache, die mich persönlich berührt, ich fühle mich mit dieser Sprache sehr verbunden.
KL: Welche Sprachen sind denn keine guten Singsprachen?
Adèle: Für mich ist es schwierig auf Französisch zu singen, weil wir ganz viele Laute haben, die schwierig zu singen sind. Derselbe Grund macht Englisch für mich schwierig. Deutsch und Italienisch sind sehr einfach für mich. Ich glaube, es ist immer am schwierigsten, etwas in der eigenen Sprache zu singen. Dafür fällt es mir natürlich leichter, französische Texte auswendig zu lernen.
KL: Gibt es Sprachen, in denen du überhaupt nicht singen möchtest?
Adèle: Ich glaube asiatische Sprachen, weil ich keine Beziehung zu Asien und asiatischer Kultur habe. Ich bin Europäerin und ich bin in europäische Sprachen verliebt.
KL: Wie können wir uns das in der Praxis vorstellen? Du wirst von der Oper in Kiel als Iolanta gebucht, kannst aber noch gar kein Russisch … wie fängst du an?
Adèle: Die Oper weiß natürlich schon vorher, dass ich kein Russisch kann. Aber jede Oper hat Sprach-Coaches, mit denen man arbeitet. Entweder vor Ort oder auch mal per Videokonferenz, wenn ich Frankreich oder anders wo bin. An dieser Stellen vielen Dank an meine Russisch-Trainerin in Kiel, Irina Brojinski, die sehr geduldig mit mir war!
Außerdem höre ich mir vor den Aufführungen Aufnahmen von Muttersprachler:innen an und es gibt so viele Russ:innen und Ukrainer:innen in der Opernwelt, mit denen man auch immer mal üben kann. Alexey, der den Arzt in „Iolanta“ singt, hat zuvor in „Carmen“ gesungen und ich konnte ihm mit seinem Französisch helfen – so ist das eine Win-win-Situation. Auch Maria Gulik („Marta“ in der Oper „Iolanta“, Anm. d. Red.) hat mir sehr mit meinem Russisch geholfen. Trotzdem ist das alles nicht leicht. Ich habe zwei Monate gebraucht, um den Text für Iolanta auswendig zu lernen.
KL: Verspürst du, wenn du singst, eine besondere Verantwortung gegenüber dem Komponisten oder dem Autoren, der Musik und dem Publikum?
Adèle: Definitiv! Das ist Teil des Jobs. Ich bin keine Schauspielerin, aber trotzdem muss ich all meine Lebenserfahrung und meine Gefühle in diese Worte stecken. Als ich das erste Mal „Iolanta“ gelesen habe, kam sie mir so fromm und naiv vor, aber sie entwickelt sich und am Ende habe ich mich in Iolanta, die Figur und die Oper, verliebt. Und das versuche ich auch zu transportieren.
Dieser Beruf ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Berufung, denn ich bin mein Beruf. Jedes Mal, wenn ich die Bühne betrete, habe ich nur einen einzigen Wunsch: eine Partitur zum Leben zu erwecken, die Persönlichkeit des Komponisten zum Leben zu erwecken. Ich bin die Verbindung zwischen Papier und Klang, zwischen Absicht und Botschaft.
KL: Welche Opern hörst du selbst gerne?
Adèle: Ich gehe gar nicht so oft in die Oper. Eigentlich nur, um neue Künster:innen kennenzulernen oder um eine neue Oper zu entdecken. Ich gehe lieber ins Konzert und höre dann Sinfonien oder Kammermusik. Denn die Oper, das ist mein Beruf und wenn ich in der Oper sitze, kann ich nicht gut entspannen. Aber es ist in jedem Fall auch immer ein Vergnügen, ins Konzert zu gehen und den Kolleg:innen bei der Arbeit zuzusehen
KL: Gibt es Komponisten, die du besonders magst?
Adèle: Ich liebe Schostakowitsch mit meiner ganzen Seele. Es folgen die großen Meister der slawischen Musik wie Strawinsky, Mussorgski, Rachmaninow, Scymanowski, Janacek und Dvorak. Bartok gehört auch zu meinen Favoriten. Außerdem liebe ich alle großen deutschen Romantiker, die italienischen Postromantiker und die französische Moderne. Dann das, was ich gerne als die heilige Dreifaltigkeit „Bach-Mozart-Beethoven“ bezeichne. Tschaikowski gehört zu den ganz großen der romantischen Periode. Tschaikowski lebte dabei an der Grenze von zwei Zeitaltern: Er ist noch nicht das neue Europa, aber auch nicht mehr ganz das alte Europa, Ich habe Sehnsucht nach diesem Europa. Aber all diese großen Komponisten – Tschaikowski, Szymanowski, Berlioz oder Strauß und Wagner – sind unser europäisches Erbe und wir müssen sie schützen.
Als ich Musikerin wurde, habe ich mich dafür entschieden, Beschützerin und Übermittlerin eines der schönsten Erben der Menschheit zu sein. Wir müssen dieses Erbe fortführen, indem wir weiterhin komponieren, aber auch, indem wir weiterhin in Konzerte gehen. Ohne Ohren, die ihr zuhören, ohne Hände, die ihr applaudieren, ohne Stimmen, die sie loben oder hassen, ohne Seelen, die sie fühlen, kurz: ohne Publikum ist Musik nur eine Partitur.
KL: Dein Herz scheint nicht sonderlich für Thomas zu schlagen. Gibt es französische Komponisten, die dir wichtig sind.
Adèle: Ja! Viele! Aber viele französische Komponisten haben einen, wie wir sagen, Wagner-Komplex. Die sind alle nach Bayreuth gegangen, um „Götterdämmerung“ und „Parsival“ und so weiter zu sehen. Die französische Musik des letzten Jahrhunderts ist erstaunlich. Es ist zum Teil der Wagnerschen Verehrung/Abstoßung und auch der Inspiration durch die deutsche und russische romantische Musik zu verdanken, dass die Franzosen unseren nationalen Musikstil geformt haben. Chausson, Fauré, Berlioz, Debussy, Poulenc, Messian, Ravel und so weiter und so fort.
KL: Welche französischen Opern sollte ich mir anhören und anschauen? Was ist die beste französische Oper?
Adèle: Alle, natürlich! Aber meine französischen Lieblingsopern sind „Pelléas et Mélisande“ von Debussy und „Dialogues des Carmélites“ von Poulenc. Letztere ist eine große Reflexion über den Tod und darüber, was es bedeutet, religiös zu sein. Und es geht darum, dass wir vor dem Tod alle gleich sind.
Was mir übrigens hier in Kiel so sehr gefällt, ist, dass hier nicht nur die großen, bekannten Opern gespielt werden, sondern auch so etwas wie eben „Iolanta“.
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KL: Wie lange probt man für so eine Oper?
Adèle: Für Iolanta haben wir etwa einen Monat lang geprobt. Anderswo ist es aber auch weniger. In Lüttich hatte ich für „Die Zauberflöte“ nur drei Wochen. Dafür laufen Opern in Deutschland oft länger, also über mehrere Monate oder ein halbes Jahr. In Frankreich haben wir oft zwei bis drei Wochen Proben und dann zehn Aufführungen in einem oder zwei Monaten.
KL: Wie schwierig ist es, Gelerntes nicht wieder zu vergessen, wenn du eine Oper immer mal wieder über sechs Monate singst?
Adèle: Das passiert nicht, weil die Oper jetzt ein Teil von mir ist. Ich habe den Text natürlich immer irgendwie im Kopf oder wache morgens mit einer Melodie im Ohr auf. Aber ich reise immer ein bis zwei Tage vor der Aufführung an und habe dann genug Zeit, um wieder hineinzukommen.
KL: Und wie oft musst du selbst üben, um in Form zu bleiben?
Adèle: Natürlich jeden Tag. Ich bin wie eine Instrumentalisten. Ich muss jeden Tag arbeiten und üben. Das ist auch eine Art Lebensphilosophie. Aber ich übe dann nicht jeden Tag konkret für „Iolanta“, sondern eher die Technik und um insgesamt besser zu werden. Da geht es dann um Mikrobewegungen, Resonanzwege, aber auch den Körper als Ganzes. „Iolanta“ selbst ist jetzt in meinem Kopf, die muss ich nicht mehr groß üben.
KL: Du bist ja nicht nur auf der Opernbühne als Sängerin aktiv. Was gefällt dir besser: Als Teil eines Ensembles, wie eben in der Oper, zu singen oder als Solosängerin auf der Bühne zu stehen?
Adèle: Ich möchte primär Opernsängerin sein, aber die Kammermusik nie ganz ablegen.
Ich singe mit meiner Seele. Und wenn mein Gesang nicht mehr das Spiegelbild meiner Seele ist, werde ich mich zurückziehen. Insgesamt mag ich es aber, auf der Bühne eher zurückhaltend zu sein und nicht so sehr die große Gestik zu zeigen. Ein Beispiel: Es gibt die Musik von Schubert und einen Text dazu von Goethe – und das ist genug – mehr braucht es nicht. Wir leben in einer Gesellschaft, wo alle immer das Gefühl haben, eine große Show machen zu müssen, um wahrgenommen zu werden. Aber unser Job ist es in erster Linie gut zu singen.
KL: Was ist für ich das Schönste an deinem Beruf?
Adèle: Ich bin sehr stolz darauf, dass ich mein Leben mit etwas bestreite, das ich liebe. Aber es trotzdem ein Job. Es nicht immer alles schön und super. Aber es ist das schönste, dass ich einen Kindheitstraum lebe. Auch, wenn es andere Dinge schwierig macht. Etwa eine Familie zu haben oder einen Kredit bei einer Bank zu bekommen. Dabei habe ich so viel über meine Leidenschaft, die Musik, gelernt – ich wusste nicht, dass Musik mir all das geben kann. Es ist aber auch hart. Manchmal hat man zwei Monate lang fast jeden Tag Auftritte und dann ruft für drei Monate niemand an. Damit muss man erst einmal lernen, klarzukommen. Ich fühle mich oft reifer als mein eigentliches Alter. Musiker:innen werden in der Regel viel schneller erwachsen, auch, weil wir keine Wahl haben.
KL: Eine große Frage, gerade bei Neulingen in der Oper oder im klassischen Konzert, ist ja immer: Wann darf man klatschen?
Adèle: Ich liebe das deutsche Publikum! Die Deutschen sitzen im Konzert oder in der Oper, sind oft gut angezogen und lauschen der Musik schon fast auf religiöse Weise. Ich liebe das! Wenn du in Italien eine Arie singst, dann rufen die Leute danach „Bravo!“ und klatschen und so weiter. Da gibt es immer eine Reaktion! Ich war neulich in Frankreich und da gab es einen Hund auf der Bühne und jemand aus dem Publikum rief mitten in der Aufführung, dass sich das nicht gehöre. Das Publikum ist da also lebendiger, fast schon zu lebendig. Die Deutschen sind da, um die Musik zu hören und sind sehr, sehr respektvoll. Das mag ich.
Aber klatschen darfst du meiner Meinung nach, wann immer du willst und nicht nur am Ende! Musik und Schauspiel sind lebendige Künste. Und wir auf der Bühne brauchen das auch, das gibt uns Energie und Leben! Und kümmere dich nicht um die alten Leute neben dir, die böse gucken!
KL: Zum Schluss: Gibt es Missverständnisse, die dir regelmäßig begegnen, mit denen du aufräumen möchtest?
Adèle: Ja! Eine Sache höre ich oft und es stimmt einfach nicht: Man muss nicht dick sein, um eine gute Sängerin zu sein! Fett gibt einem keinen besseren Resonanzkörper. Um gut zu singen, hilft es, groß zu sein und man benötigt eine gute Muskulatur und viele dicke Menschen haben eine gute Muskulatur und einen stabilen Körperbau, weil sie den ganzen Tag viel Masse bewegen müssen. Daher ist das vielleicht ein Vorteil. Aber man muss auf keinen Fall dick sein, um Opernsänger:in werden zu können.
Adèle Lorenzi-Favart, vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führte Sebastian Schack.
Wenn du Adèle in Kiel live auf der Bühne erleben möchtest, dann hast du da in dieser Spielzeit noch dreimal die Gelegenheit zu. „Iolanta“ wird im Opernhaus noch am 1. und 15. April, sowie am 26. Mai gespielt.
Karten für alle Vorstellungen gibt es online unter theater-kiel.de, telefonisch via 0431–901 901 oder an den Vorverkaufskassen des Theaters.