Für das KIELerleben-Jahresinterview haben wir mit Oberbürgermeister Dr. Ulf Kämpfer über Kiels bevorstehende Entwicklung, Kommunalpolitik, den nachlassenden Schrecken der Pandemie und bezahlbares Wohnen gesprochen.
Herr Kämpfer, wenn Sie auf 2022 zurückblicken: War es ein gutes Jahr?
Nachdem ich dachte, dass es mit der Coronapandemie und der Flüchtlingskrise nicht noch aufregender werden könnte, stellte uns der Krieg gegen die Ukraine vor eine neue Herausforderung. Gleichzeitig war auch eine allgemeine Flüchtlingszunahme zu beobachten, sodass wir im Jahr 2022 genauso viele Geflüchtete aufgenommen haben, wie im Winter 2015/2016. Ich bin froh darüber, dass es dieses Mal reibungsloser vonstatten ging. Das bedeutet jedoch nicht, dass es so weitergeht. Wenn die Prognosen des Landes Schleswig-Holstein stimmen, bekommen wir noch in diesem Winter große Schwierigkeiten.
Im vergangenen Jahr durfte Kiel aber auch wieder Kiel sein! Wir hatten eine tolle Kieler Woche nach zwei wirklich schwierigen Corona-Jahren. Das war sehr schön. Wir hatten aber auch ein paar wichtige kommunalpolitische Entscheidungen, wie beispielsweise über die Stadtbahn. Hier wurde ein historischer Fehler korrigiert. Über die Entscheidung bin ich nicht nur als solche froh, sondern auch über die unglaublich breite Zustimmung, die sie in der Bevölkerung und auf landespolitischer Ebene erfahren hat.
Sehen Sie echte Schwachstellen der Stadtbahn?
Es gibt keine echten Schwachstellen. Wenn man ein solches Infrastukturprojekt in ein bestehendes Verkehrssystem integrieren möchte, dann ist das eine besondere Herausforderung. Wir haben an manchen Stellen enge Straßenführungen.
Hier müssen wir uns die Frage stellen, wie wir die Ansprüche der Autos, Zulieferer, Radfahrenden und Fußgänger*innen unter einen Hut bekommen. Noch vor 30 Jahren waren die Voraussetzungen andere. Heute müssen wir uns fragen, ob Straßenbahnen über die Gablenzbrücke fahren können? Haben diese einen Einfluss auf die feinen Messgeräte in der Technischen Fakultät oder die Schmerzklinik, wenn sie eines Tages nach Dietrichsdorf fährt? Unsere Welt wird komplexer und somit auch ein solches Projekt.
Im Falle eines Unfalls auf den Schienen, steht der nachfolgende Verkehr jedoch erst einmal vor einem Problem.
Wir sehen den Vorteil, dass ein Schienensystem in erster Linie stabiler und sicherer ist im Alltag. Ausfälle und Verspätungen werden seltener. Es ist kein Zufall, dass fast alle großen deutschen Städte ein Straßen- oder U-Bahnsystem haben. Überall in Europa hat man erkannt, dass es allein mit Bussen nicht funktioniert und die Uhr zurückgedreht. Die Straßenbahntechnik ist zwar im 19. Jahrhundert erfunden worden, jedoch ist sie nicht veraltet, sondern zukunftsträchtig. Es wird voraussichtlich das erste Verkehrssystem sein, welches sich autonom fortbewegen wird.
Der Beschluss in der Ratsversammlung war eindeutig: Pro Stadtbahn. Welche Hürden müssen in den kommenden Jahren noch genommen werden?
Die Mobilitätswende mit dem Neubau einer Tram enorm voranzubringen, ist für die Kieler Stadtentwicklung eine riesige Chance, die nur vergleichbar mit den Olympischen Segelwettbewerben 1972 ist. Gemeinsam ist es uns gelungen, breite und parteiübergreifende Unterstützung für dieses Projekt herzustellen. Die große Mehrheit in dieser Stadt freut sich auf eine Stadtbahn, aber niemand freut sich auf die Bauphase, die mit Lärm, Staub und bei Geschäftsleuten vielleicht auch mit Einbußen verbunden ist. Deswegen war es uns sehr wichtig mit den Geschäftsleuten der Holtenauer Straße nicht nur zu reden, sondern eine Vereinbarung zu schließen, wie wir dafür sorgen können, die Belastungen möglichst gering zu halten. So ein großes Projekt wie die Stadtbahn kann nur gelingen, wenn wir in der breiten Stadtgesellschaft dafür die nötige Unterstützung behalten.
Die Stadt wird sich in den kommenden Jahren auch an der Kiellinie verändern, mit dem Ziel, die Aufenthalts-, Nutzungs- und Gestaltungsqualitäten zu steigern. Wie gelingt das?
Die Kiellinie ist heute ja schon ein ganz begehrter Hotspot nicht nur für die Flaneure, sondern für alle Kieler*innen. Dazu tragen das Camp24, die Badestellen an der Förde, der Kanusport und die Gastronomie bei. Das hat sich wirklich toll entwickelt. Mit diesem Pfund wollen wir noch weiter wuchern. Der Gewinner des Planungswettbewerbes ist ermittelt. Und nun geht es darum, mit ihm gemeinsam unsere Kiellinie noch attraktiver zu gestalten. Mir ist es sehr wichtig, dass die Menschen, die Sport machen wollen, die laufen, die baden, die flanieren oder tanzen, die Bedingungen vorfinden, die sie brauchen, um sich mit ihrem Hobby dort wohl zu fühlen. Der Gewinnerentwurf bringt all diese Ansprüche hervorragend und visionär unter einen Hut – damit bringen wir Kiel ganz neu an, auf und in die Förde.
Die Pandemie hat ihren Schrecken etwas verloren. Nun ist die Maskenpflicht im ÖPNV gefallen. Wie beurteilen Sie diese Entscheidung?
Die rechtlichen Einrichtungen zur Corona-Pandemie werden im kommenden Jahr keine Rolle mehr spielen. Ab 1. Januar fällt die Maskenpflicht im ÖPNV. Aber das Virus ist noch unter uns.
Gerade in diesem Winter sind viele Menschen erkrankt. Hier müssen wir eigenverantwortlich handeln, wer krank ist, bleibt zuhause und wer eine Maske aufsetzen will, obwohl es nicht mehr Vorschrift ist, sollte das tun. Mehr denn je müssen wir künftig alle gut auf unsere Gesundheit aufpassen, weil das individuell, aber auch für die ganze Stadt wichtig ist.
Was glauben Sie: Wie hoch ist der Anteil derer, die tatsächlich auf eine Maske im ÖPNV verzichten werden?
Ich gehe davon aus, dass nur noch eine Minderheit eine Maske benutzen wird. Wichtig ist, dass niemand schief angeschaut wird, wenn er oder sie eigenverantwortlich eine Maske trägt.
Im Mai 2023 wird gewählt
Der Blick auf Kiel: Wo sind Sie am 14. Mai um 18 Uhr?
Wenn die ersten Hochrechnungen zur Kommunalwahl in Kiel reinkommen, werde ich aller Voraussicht nach im Rathaus sein und mir die ersten Prognosen anschauen. Ich bin ein politischer Mensch und schaue natürlich aus einer gewissen Perspektive auf die Wahl mit dem Wunsch, dass es eine Mehrheit in der Ratsversammlung gibt, die das, was mir politisch wichtig ist, auch unterstützt. Natürlich leben wir in einer Demokratie und ich bin kein Mensch, der in Freund-Feind-Denken verhaftet ist, sondern ein politisch verträglicher Mensch. Am Ende haben wir alle eine gemeinsame Verantwortung für die Stadt. Ich bin mir sicher: Wo immer am Ende die Mehrheiten liegen werden, gilt es, gut zusammen zu arbeiten.
„Man sollte die Wahrheit dem anderen wie einen Mantel hinhalten, dass er hineinschlüpfen kann – nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf schlagen.“
Sie werden auf der Website der Kieler SPD als „sanfter Krieger“ bezeichnet. Welche Kriege fechten Sie in diesem Jahr aus?
Es gibt viele dicke Bretter zu bohren und manchmal auch gegen Widerstände zu arbeiten. Das Thema Wohnungsbau macht mir sehr große Sorgen, weil es mir so wichtig ist. Kiel ist eine attraktive Stadt, in der viele Menschen wohnen möchten und in der wir es noch nicht schaffen, den Bedarf zu decken. Das führt zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit sowie zu stark steigenden Mieten. Selbst diejenigen, die es sich leisten können, haben einen hohen Anteil ihres Einkommens für die Miete zu zahlen. Und das tut einer Stadt nicht gut. Es gilt in diesem Punkt alle Kräfte zu mobilisieren und sich auch mit der Landesregierung auseinanderzusetzen. Die gesetzlichen Voraussetzungen, die der Bund geschaffen hat, müssen in Kiel zur Anwendung kommen. Wir brauchen ein Wohnraumaufsichtsgesetzt, damit wir den schwarzen Schafen unter den Vermietenden auf die Füße treten können und der Weg frei wird, um Gebäude zu kaufen und dort sozialen Wohnraum einzurichten. So manch einer in der Landesregierung ist in diesem Punkt vielleicht noch etwas behäbig. Diesen gilt es Feuer unter dem Hintern zu machen.
So radikal kennen wir Sie ja gar nicht!
„Man sollte die Wahrheit dem anderen wie einen Mantel hinhalten, dass er hineinschlüpfen kann – nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf schlagen.“ In diesem Sinne versuche ich Politik zu machen. Ich gehe davon aus, dass die meisten Menschen nur das Beste für die Stadt wollen, auch wenn wir unterschiedliche Werte haben und Ziele verfolgen. Man erreicht am meisten, wenn man bereit ist, Kompromisse einzugehen und Interesse daran hat, welche guten Argumente andere hervorbringen. Aus meiner Zeit als Familienrichter und Mediator weiß ich, dass man mit dieser Art ziemlich weit kommt. Das entspricht also nicht nur meiner Art, sondern ist auch sehr effektiv.
Mit Blick auf Ihre Kandidatur für den stellvertretenden SPD-Landesvorsitz und dem katastrophalen Abschneiden ihrer Partei bei der letzten Landtagswahl: Wie könnte der warme Mantel dazu beitragen, dass auch die Prozentzahlen der SPD auf Landesebene wieder steigen?
Das war für uns ein Desaster. Genauso wie viele andere, habe auch ich ein solches Ergebnis nicht kommen sehen. Ich glaube, nicht nur der SPD, sondern auch der Demokratie in Schleswig-Holstein würde es guttun, wenn es neben der CDU und den Grünen auch eine starke SPD gibt. Ich möchte mithelfen, dass wir eine lebendige soziale Partei haben. Ich glaube, die Demokratie braucht die SPD. Ich kann zwar keine Landespolitik machen. Aber das, was ich tun kann als stellvertretender Landesvorsitzender, möchte ich gern leisten und ich hoffe, die Partei sieht das genauso.
Was sind Ihre Themen, für die Sie sich bis zur Wahl am 14. Mai stark machen werden?
Ich bin von der Kommunalwahl nicht direkt betroffen, meine Amtszeit als direkt gewählter Oberbürgermeister geht bis zum Jahr 2026. Das bedeutet für mich, dass ich noch einmal richtig Gas gebe, um wichtige Projekte umzusetzen und anzuschieben. Dafür benötige ich Beschlüsse, die von einer breiten politischen Mehrheit in der Ratsversammlung getragen werden. Deshalb hat die Kommunalwahl auch für mich eine große Bedeutung. Wichtige Themen sind derzeit die Bewältigung der Flüchtlingskrise, die Energieversorgung aller Menschen zu bezahlbaren Preisen, die weitere Planung unserer Tram, das Voranbringen der Verkehrswende, die Wohnungsbauoffensive und bei all dem will ich auch künftig mit der Kommunalpolitik an einem Strang ziehen.
Auf dem Ostufer tut sich was
Wieso ist der Neubau der Technischen Fakultät auf dem Ostufer wichtig für Kiel?
Erst einmal ist der Neubau wichtig für die Universität. Mir ist wichtig, dass wir nicht nur die Geisteswissenschaften stärken, sondern auch Kiel als Industriestandort festigen und so die große Transformation in Schleswig-Holstein vorantreiben. Dafür sind technische Wissenschaften sehr wichtig. Entgegen früherer Überlegungen, die Technische Fakultät auf das Westufer zu holen, bin ich froh, dass die Wissenschaft auf dem Ostufer gestärkt wird – und damit auch der gesamte Stadtteil Gaarden.
Wie kann das Ostufers gestärkt werden und gleichzeitig Universität und der Stadtteil Gaarden gemeinsam wachsen?
Die Fakultät soll im Stadtteil vernetzt sein. Das bedeutet, Barrieren abzubauen und das Ostufer besser in die Stadt zu integrieren, beispielsweise durch ein neues Studierendenwohnheim, den Anschluss an die Stadtbahn in den kommenden Jahren oder den Ausbau der Veloroute. Die Fakultät verwächst so gemeinsam mit dem Stadtteil und kann gegenseitig voneinander profitieren. Dabei passiert auch in den anderen Stadtteilen eine Menge. Die Kieler Hochschulen haben schon alle ihre eigene Erfolgsgeschichte:Die Fachhochschule sowie die Muthesius Kunsthochschule, die Christian-Albrecht-Universität, aber auch unsere großen Forschungsbereiche am GEOMAR oder das Institut für Weltwirtschaft. Diese sind stark gewachsen. Nun geht es darum, die Qualität auszubauen, und diese beginnt mit den Gebäuden. Deshalb investiert das Land über eine Milliarde Euro. Die Technische Fakultät ist ein gutes Beispiel dafür, wie es nicht bleiben konnte und wieso wir dies ändern wollen. Wir bekommen hier hochmoderne Gebäude, die den höchsten technischen Ansprüchen und wissenschaftlichen Voraussetzungen genügen werden.
Ist mit einer Erhöhung der Mieten in Kiel und dem Stadtteil Gaarden zu rechnen?
Wir brauchen in Kiel und Gaarden sowohl bezahlbaren als auch modernen Wohnraum. Gaarden kann an der einen oder Stelle durchaus eine bauliche Aufwertung bekommen. Wir haben große Neubauprojekte an der Hörn bei KOOLKIEL. Dort entsteht moderner Wohnraum und 30 Prozent sozialer Wohnungsbau – und so stellen wir uns die Zukunft vor. Wir wollen in allen Stadtteilen eine möglichst große Vielfalt haben. Das bedeutet für Gaarden, dass auch Studierende hinziehen und sich wohlhabendere Menschen hier niederlassen könnten, ohne die hier Lebenden zu verdrängen. Das ist eine schwierige Gratwanderung, wenngleich hier neuer Wohnraum entsteht und keine Kieler*innen wegen der Neubauten weichen müssen.
Wie nehmen Sie den Stadtteil Gaarden aktuell wahr?
Gaarden ist ein bunter Stadtteil mit seinen Einrichtungen. Mit seinen selbstbestimmten Kulturen, dem Hörnbad, der Musikschule, dem großen Sportpark oder dem renovierten Stadtbad Katzheide. Viele andere Stadtteile in Kiel würden sich die Finger danach lecken. Gleichzeitig ist es auch ein Stadtteil, in dem viele arme Menschen von staatlicher Unterstützung leben. Es gibt einen hohen Migrationsanteil. Viele Kieler*innen sind hier gut integriert, einige aber auch nicht. Aus diesem Grund haben wir uns ein Projekt wie Gaarden Hoch 10 vorgenommen. Wir wollen den Stadtteil nicht sich selbst überlassen – er braucht viel Liebe und einen langen Atem von unserer Seite, der Stadtverwaltung. Hier müssen wir unbedingt am Ball bleiben und dafür sorgen, dass sich dieser Stadtteil entfalten kann.
Gemeinsam mit den neuesten Bauvorhaben auf dem Westufer wächst unsere Stadt als Bildungsstandort seit Jahren. Wieso ist es gerade für Studierende interessant nach Kiel zu kommen?
Das Wichtigste für Studierende ist, dass sie das richtige Studienfach gefunden haben und dafür gibt es in Kiel eine reiche Auswahl an Möglichkeiten. Darüber hinaus hat Kiel viele Vorteile für Studierende, es ist eine richtige Großstadt, aber gleichzeitig eine schöne Mischung aus Urbanität und familiärem Umfeld. Man kennt sich, man trifft sich, aber man kann sich auch aus dem Weg gehen. Und, was Studierende natürlich auch hierher zieht, sind das Surfen, das Segeln, die Nähe zur Ostsee. Wo kann man schon im Sommer vormittags im Hörsaal sitzen und nachmittags am Strand sein? Studierende benötigen natürlich auch Wohnraum. Der ist in Kiel zwar im Gegensatz zu Hamburg, München oder Berlin bezahlbar, aber knapp. Wir brauche deshalb in den kommenden Jahren mehr öffentlich geförderte Studierendenwohnheime. Davon haben wir in Schleswig-Holstein zu wenig. Im Frühjahr des kommenden Jahres wird nun ein Bebauungsplan auf dem Unigelände fertig, dann werden immerhin 100 Wohnungen für Studierende entstehen.
Bezahlbares Wohnen ist ein sensibles Thema. Was kann die Stadt tun, um der Entwicklung steigender Mieten entgegenzuwirken?
Wir brauchen auf der einen Seite viel Neubau. 2.000 neue Wohnungen sind in Kiel im Bau. Große Wohnprojekte wie beispielsweise in Holtenau Ost sind in Planung. Auf der anderen Seite benötigen wir mehr zielgruppengerechte Unterkünfte zum Beispiel für Studierende. Wenn die jungen Menschen in bezahlbaren Studierendenwohnheimen unterkommen, können die Wohnungen von Familien genutzt werden. Ein kleiner Baustein könnte auch das von der Landesregierung in Aussicht gestellte Wohnraumschutzgesetz sein. Wenn es verabschiedet ist, kann gegen zweckentfremdete Nutzung von Wohnraum und gegen seine Vernachlässigung vorgegangen werden.