Rüdiger Nehberg (82) kann auf ein bewegtes Leben zurückblicken. Im Interview spricht der Survival-Experte über seine vielen Reisen und das große Ziel, das er sich noch gesetzt hat
KIELerleben: Woher rührt Ihre große Lust auf Abenteuer?
Rüdiger Nehberg: Das ist angeboren. Meine ganze Familie war komplett anders. Das waren Banker. Nach dem Krieg habe ich eine Bäckerlehre gemacht und konnte im Sommer dank vieler Überstunden zwei Monate reisen. Meinen Eltern habe ich erzählt, dass ich einen Freund in Paris besuche. Tatsächlich bin ich aber von Münster mit dem Fahrrad nach Marokko gefahren. Der Freund in Paris hat dann jede Woche eine vorgefertigte Postkarte an meine Eltern geschickt.
Wieso gerade Marokko?
Ich war schon immer ein Schlangenfreak und wollte dort Schlangenbeschwörung lernen, um damit Geld zu verdienen. Ich wollte selbstständig werden. Mit 30 hatte ich das dank meiner eigenen Konditorei geschafft. Aber als der Laden lief, wurde es eintönig. Deshalb hatte ich weiterhin große Reiselust. In den USA habe ich dann vom Thema Survival gehört…
… und haben das daraufhin nach Deutschland importiert?
Genau. Das war damals noch nicht einmal bei der Bundeswehr ein Thema. Ich habe mir eine Kletterwand in die Backstube geschraubt und immer wieder neue Trainings ausgedacht, wie von Eisloch zu Eisloch tauchen. Später bin ich 1000 Kilometer ohne Nahrung durch Deutschland gelaufen und habe drei Male den Atlantik überquert: mit einem Tretboot, einem Bambusfloß und zuletzt mit einem massiven Baumstamm.
Hatten Sie keine Angst vor den Gefahren, die derlei Reisen bergen?
Doch, die ist überlebenswichtig. Ich hatte keine Ahnung von Seefahrt und Angst vor Wasser. Aber alles, was ich wissen musste, wurde mir von Spezialisten in Einzelunterricht beigebracht. Navigation hat mich ein alter Kapitän gelehrt, die Angst vor Wasser habe ich mir bei den Kampfschwimmern in Eckernförde abtrainiert.
1975 wurde bei einer Fahrt über den Blauen Nil Ihr Kameramann Michael Teichmann in Äthiopien von Einheimischen erschossen. Haben Sie danach nicht überlegt, kürzer zu treten?
Nein. Wir waren bei einem früheren Versuch schon beschossen worden und hielten das für Warnschüsse. Ich war früher auch leichtsinniger. Bei diesem Mal standen auf einmal zwölf Leute vor uns, schossen direkt und trafen Michael in den Kopf. Mein zweiter Freund und ich hatten Glück und konnten flüchten. Die Täter wurden später gefunden und verurteilt.
Das klingt wie eine Szene aus einem Abenteuerfilm.
Mein ganzes Leben ist ein Krimi. Dass ich noch lebe, ist ein Wunder. Ich habe 26 bewaffnete Überfälle miterlebt. Das war oft eine Art Abenteuer-Schach, bei dem man vorher abgewägt hat, wie man reagiert, wenn bestimmte Situationen passieren.
Wie kam es später zu Ihren Expeditionen in den südamerikanischen Regenwald?
Ich begann durch das Survival-Thema, mich für einsame Gebiete zu interessieren. Dazu gehörte der Regenwald in Nordbrasilien, wo es ein allerletztes, noch ursprünglich lebendes Regenwald-Volk geben sollte, die Yanomami. Als ich hörte, dass dieses Volk von Goldsuchern bedroht werde, wollte ich mir einen eigenen Eindruck verschaffen.
Wie verlief die erste Reise?
Ich bin 1981 nur mit Badehose und Sandalen losgezogen, damit mich die Yanomami nicht für einen Goldsucher halten, und hatte nur ein Messer, eine Mundharmonika und einen Kanister dabei. Nach fünf Tagen stand ich auf einmal vor ihnen. Aufgrund der Musik, die ich machte, waren sie positiv gestimmt und nahmen mich mit in ihr Dorf.
Wie ging es weiter?
Nach einiger Zeit wurde mir das Ausmaß der Bedrohung bewusst. In dem Gebiet, das so groß wie die Schweiz ist, gab es 65.000 Goldsucher, die Flinten gegen Pfeile nutzten. Der Indianer hatte keine Chance. Darüber habe ich Bücher geschrieben, Filmaufnahmen gemacht und war wegen dieser Thematik sogar beim Papst und bei der Weltbank.
Was war das Ergebnis Ihres Engagements?
Ich habe 1990 meine Konditorei verkauft und mich vollkommen den Yanomami gewidmet. 2000 haben sie endlich Frieden erhalten. Damit war dieses 20-jährige Kapitel meines Lebens für mich abgeschlossen.
Kurz danach haben Sie und Ihre Frau Annette die Organisation Target gegründet.
Exakt. Ich hatte schon vor über 40 Jahren von weiblicher Genitalverstümmelung gehört. Damals war ich zu jung und konnte mir nicht vorstellen, als Fremder in solch eine Tradition einzugreifen. Durch die Arbeit mit den Yanomami habe ich gelernt, dass niemand zu gering ist, um die Welt zu verändern. Man muss nur Fantasie, Entschlossenheit und eine Bereitschaft zum Risiko mitbringen.
Target setzt sich also gegen die weibliche Genitalverstümmelung ein?
Ja. Als ich las, dass täglich 8.000 Mädchen verstümmelt werden, davon 80 Prozent Muslimas sind und die Tradition falsch mit dem Koran begründet wird, wusste ich: Das wird mein neues Thema. Das Besondere unserer Strategie: den Brauch in enger Partnerschaft mit dem Islam beenden. Das ist uns gelungen. Auf einer von uns organisierten Konferenz in der Azhar zu Kairo (vergleichbar mit dem Vatikan) ächteten die höchsten Geistlichen des Islam den Brauch als Sünde, die höchste Werte des Islam verletzt.
Gibt es ein Ziel, das Sie noch erreichen wollen?
Mein Traum ist es, diese historische Botschaft zusammen mit dem saudischen König auch in Mekka zu verkünden. Auf großem Transparent auf dem heiligen Platz an der Kaaba.
Das Interview führte Bastian Karkossa
Stichwort: Target
Das Gespräch mit Rüdiger Nehberg fand im Rahmen des 7. Kieler Schmiedetreffens „Schmieden für die Menschenrechte“ statt. Die Veranstaltung wird ein Mal pro Jahr von Heiko Voss organisiert. Schmiede aus Deutschland, Finnland und den USA erschaffen ein Wochenende lang am Alten Markt in Kiel kleine Kunstwerke, die zugunsten von Rüdiger Nehbergs Organisation Target verkauft werden. Dabei kamen bisher über 16.000 Euro zusammen. Weitere Informationen unter www.target-nehberg.de.