Hervorragende Sänger:innen, ein fantastisches Orchester und eine der größten Opern der Welt in einer lauen Sommernacht unter freiem Himmel. Was will man mehr?
Kiel erfreut sich als zumindest zeitweise Klimakrisengewinnerin in diesem Jahr an einem Sommer, der spanischen Gefilden würdig ist. Georges Bizets in Sevilla verortete Weltoper „Carmen“ passt also perfekt auf den Kieler Rathausplatz und unter den Rathausturm, der nicht ganz zufällig an den in Siena erinnert. Siena oder Sevilla – Hauptsache Spanien!
Der Inhalt der Oper von 1875 ist schnell erklärt: Es ist ein Liebesdrama mit tragischem Ausgang. Der Soldat Don José (Andeka Gorrotxategi) verliebt sich in Carmen (Anastasia Boldyreva). Die Freiheitsliebende verlässt den Liebestrunkenen und bändelt stattdessen mit dem gefeierten Torero Escamillo (Leon Kim) an. Der gehörnte Don José erträgt die Zurückweisung nicht und tötet seine große Liebe im Finale. Wenn er Carmen nicht haben kann, soll niemand sie haben!
Die großen Liebesgeschichten aus Theater und Oper scheinen – egal, ob Othello, Romeo und Julia oder eben auch Carmen – ohnehin zeitlos zu sein und jederzeit zu funktionieren. „Carmen“ allerdings trifft den herrschenden Zeitgeist besonders gut. Sosehr man die Enttäuschung Don Josés auch nachvollziehen mag, gelten seiner Figur, die im Verlauf der Oper zunehmend besitzergreifend wird, heute nur noch verhaltende Sympathien. Was das Publikum zwischen Carmen und Don José erlebt, heißt heute „toxische Beziehung“. Und zum Schluss tötet er Carmen eben nicht, romantisch verklärt, aus Liebe – heute sprechen wir hier von Femizid.Das ist natürlich auch dem Team des Theaters Kiel um Intendant Daniel Karasek bewusst und so findet sich zu diesem Thema ein eigener Artikel im Begleitheft zur Oper.
Karges Bühnenbild und große Sangeskunst
Don José findet sich zu Beginn der Geschichte in innerlichen wie äußerlichen Tristesse wieder. So gesehen passt das von Lars Peter verantwortete und in sich stimmige Bühnenbild gut zur Oper. „Carmen“ entführt das Publikum eben nicht in zauberhafte Traumwelten, sondern in die karge Realität Südspaniens und die Berge der an Sevilla angrenzenden Sierra Morena.
Abzüge gibt es hier maximal für den etwas ruckelig aufgehenden Mond zu Beginn des dritten Aktes, der auch unter den Zuschauer:innen für Belustigung sorgte.
Wie schon von früheren Kieler Großinszenierungen gewohnt, wird auch bei „Carmen“ immer wieder versucht, das Werk visuell etwas mehr in ins Hier und Jetzt zu holen. Sei es mit einem Smartphone-Selife das Micaela (Athanasia Zöhrer) von sich und Don José aufnimmt oder den modernen Pkw, mit denen die Protagonist:innen sich teilweise zwischen den verschiedenen Handlungsorten bewegen. Die für die Aufführung funktionslos auf dem Platz in Sevilla positionierte Telefonzelle passt da allerdings nur im Ansatz ins Konzept.
An der Sangesleistung derweil gibt es nichts zu deuteln! Die großen Rollen sind sowohl stimmlich als auch schauspielerisch hervorragend besetzt. Lediglich der Don José wirkt, gemessen an der heutigen Auffassung der Umstände, die zu Carmens Tod führen, etwas zu weich. Das allerdings mag man auch als Verweis darauf verstehen, dass er, bei aller Schrecklichkeit seines Verhaltens, eben kein eiskalter Mörder ist, sondern aus Leidenschaft und Verletztheit handelt. Ist dieser Spagat gewollt, so ist er gut gelungen.
In den Nebenrollen sind vor allem Gaetano Triscari, der den Leutnant Zuniga verkörpert, und Karola Sophia Schmid als Frasquita besonders hervorzuheben.
Das versteckte Orchester
Maßgeblich zum Erfolg dieses Abends trugen auch die Kieler Philharmoniker unter der Leitung von Generalmusikdirektor Benjamin Reiners bei, die sich mit ihrer Darbietung wie gewohnt einmal mehr keine Blöße geben. Da in Kiel aber selbst im Hochsommer jederzeit mit allen möglichen Wetterkapriolen zu rechnen ist und nur die wenigsten Instrumente regentauglich sind, sucht man das Orchester vergeblich in einem Graben vor der Bühne. Stattdessen verbringen die Musiker:innen die fast drei Stunden in einem (hoffentlich gut belüfteten) Zelt neben der Bühne, von wo aus ihr Wirken auf die Lautsprecher übertragen wird. Das gelingt erstaunlich gut.
Vorstellungen bis Ende August
Weitere Aufführungen von „Carmen“ präsentiert das Theater Kiel noch bis zum 31. August täglich außer an Montagen. Tickets gibt es ab 43 Euro auf theater-kiel.de oder telefonisch unter 0431-901901.
Wer mit dem „Carmen“ nicht vertraut ist oder gar den ersten Opern-Besuch überhaupt plant, sei geraten, vorher zumindest etwas umfangreichere Zusammenfassung der Handlung als dieser Artikel sie bietet zu lesen. Besonders, weil die Oper in originalsprachlich auf Französisch vorgetragen wird. Aber keine Sorge: Auch, wer dem Schulfranzösisch schon länger entwachsen ist, kannder Handlung jederzeit folgen. Dafür sorgen am Bühnenrand positionierte Leinwände, auf denen die wichtigsten Textpassagen (auf Deutsch) angezeigt werden.