KIELerLEBEN sprach mit dem Rechtsmediziner und Bestseller-Autor Michael Tsokos über Leichen, seine Bücher und die Angst vor dem Sterben.KIELerLEBEN: Herr Prof. Dr. Tsokos, warum sind Sie Rechtsmediziner geworden?
Prof. Dr. Michael Tsokos: Ich wollte Medizin studieren. Während des Studiums war ich von allen Fächern fasziniert. Bei einer Vorlesung in der Kieler Rechtsmedizin hatte ich dann das Aha-Erlebnis. Hier kommt alles zusammen. Man muss Kenntnisse aller Fachrichtungen haben, und natürlich gehört eine Portion Kriminalistik und Spannung dazu.
Wie war es für Sie, das erste Mal eine Leiche zu sehen?
Ich bin im Studium schon früh mit Toten in Kontakt gekommen. Die Leichen, an denen wir geübt haben, sind allerdings formalinfixiert. Das heißt, sie sehen aus wie Puppen, und es fließt kein Blut mehr. Deshalb war es für mich nicht so schlimm.
Heute arbeiten Sie nicht mehr mit Wachsleichen, sondern stehen oft Opfern tödlicher Gewalt gegenüber.
Es mag herzlos klingen, aber man darf die Leiche nicht als Mensch, sondern muss sie als leere Hülle begreifen. Wenn man sich über das persönliche Schicksal Gedanken macht, würde man verrückt werden.
Wann haben Sie beschlossen, über Ihre spektakulärsten Fälle ein Buch zu schreiben?
2007 habe ich den Schriftsteller Veit Etzold beraten und ihm meine Geschichten erzählt. Er sagte dann: „Schreib sie auf! Normalerweise würde ich sagen: So ein Quatsch! Aber du erlebst diesen Wahnsinn täglich.“ Teilweise ist die Realität unglaublicher als die Fiktion.
Welcher Fall war Ihr spektakulärster?
Das ist schwer zu sagen. In meinen Büchern habe ich wahre Fälle festgehalten, die alle herausstechen. Einer der spektakulärsten war der in meinem Buch „Die Klaviatur des Todes“ beschriebene Fall „Der Puzzlemörder“. Leichenteile waren an verschiedenen Orten in Berlin verteilt, und wir mussten sie wie ein Puzzle zusammenfügen.
Ihre Bücher waren sehr erfolgreich. Wie kam es dazu, dass Sie ein weiteres, „Abgeschnitten“, gemeinsam mit dem Autor Sebastian Fitzek geschrieben haben?
Wir haben uns 2008 in der Talkshow „Fröhlich lesen“ mit Susanne Fröhlich kennengelernt. Ein Jahr später sind wir uns bei der „Langen Nacht der Pathologie“ erneut begegnet. Er fragte mich, ob ich eine Idee für einen Thriller hätte, und ich erzählte ihm den Grundplot von „Abgeschnitten“: Ein Rechtsmediziner kann wegen eines Sturms nicht auf die Insel mit der Leiche fliegen und muss eine Ferndiagnose erstellen. Per Telefon weist er einen Unbeteiligten bei der Durchführung der Autopsie an, um den Mörder zu entlarven. Zwei Tage später fragte mich Sebastian Fitzek, ob wir das Buch gemeinsam schreiben wollen.
Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Ich habe eine ähnliche Situation erlebt. Als ich noch in Hamburg arbeitete, musste ich nach Helgoland, um dort eine Autopsie durchzuführen. Es war ein stürmischer Tag, sodass der Flugverkehr eingestellt wurde. Wir saßen in Cuxhafen fest – damals gab es noch keine Telemedizin – und ich fragte mich: „Was würdest du machen, wenn dort auf Helgoland ein Mörder unterwegs oder eine Infektionskrankheit ausgebrochen wäre?“ Ich dachte, dann müsste ich jemanden anrufen und ihm Schritt für Schritt Anweisungen am Telefon geben.
Ihre Bücher sind Bestseller. Was glauben Sie, reizt die Menschen an Ihren Geschichten?
Es ist ein Bereich, in den ein normaler Mensch keinen Einblick hat. Kaum einer hat in seinem Bekanntenkreis einen Rechtsmediziner. Es gibt von uns rund 220 in ganz Deutschland. Die Wahrscheinlichkeit, dass man durch Zufall einen kennenlernt, ist so hoch wie bei einem Lottogewinn. Dieses Ungewöhnliche hat etwas Geheimnisvolles.
Was ist denn der Rechtsmediziner an sich für ein Mensch?
Er ist sehr lebensfroh. Ich werde oft gefragt: „Was haben Sie in Ihrem Beruf über den Tod gelernt?“ Dann kann ich nur antworten: „Ich habe nichts über den Tod, sondern viel über das Leben gelernt, wie lebenswert es ist und dass man Momente genießen sollte.“
Haben Sie Angst vor dem Sterben?
Vor einem langsamen, schmerzhaften Siechtum, ja.
Welche Todesart würden Sie sich denn für sich selbst wünschen?
Mit 101 Jahren neben meiner Frau einzuschlafen, einen tödlichen Schlaganfall zu bekommen und danach nicht wieder aufzuwachen.
Was dürfen wir bis dahin noch von Ihnen erwarten?
Ich bin Leiter des größten Rechtsmedizinischen Instituts in Deutschland und würde hier gerne noch 20 Jahre tätig sein. Dann wird „Abgeschnitten“ demnächst fürs Kino verfilmt. Auch die Filmrechte meiner anderen Bücher sind verkauft und werden als Basis für eine Serie dienen. Und im Frühjahr 2014 kommt mein nächstes Buch raus, ein Debattenbuch über Kindesmisshandlung. Hierin werde ich aus der Sicht des Rechtsmediziners zeigen, was falsch läuft und was man anders machen könnte. Ich habe also noch viel vor.
Das Interview führte Kerstin Kristahl
Prof. Dr. Michael Tsokos
… wurde 1967 in Kiel geboren. Nach dem Abitur am Gymnasium Kronshagen studierte er an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Medizin. Heute ist Tsokos der bekannteste deutsche Rechtsmediziner und als Experte im In- und Ausland tätig. Er leitet seit 2007 das Institut für Rechtsmedizin der Charité. Neben seinen Sachbüchern „Dem Tod auf der Spur“ (2009), „Der Totenleser“ (2010) und „Die Klaviatur des Todes“ (2013) verfasste er gemeinsam mit Sebastian Fitzek den Thriller „Abgeschnitten“ (2012) – allesamt Bestseller.