Am Sonntagabend feierte das preisgekrönte Drama „Fegefeuer“ der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen im Studio des Kieler Schauspielhauses Premiere und gefiel, irritierte, verstörte. Es bot Einblick in ein Land, das in der großen Geschichtsschreibung nicht viel mehr als ein kleines Licht ist: Estland.Stille. Dunkelheit. Schritte. Eine Lampe... Ein diffuses Gefühl von Enge und Beklommenheit macht sich breit – die richtige Stimmung für Paul-Georg Dittrichs Inszenierung des „Fegefeuers“.
Der Roman der schrillen Autorin, der in kurzer Zeit zu einem Welterfolg wurde thematisiert die traumatische Geschichte Estlands im zweiten Weltkrieg und der Zeit danach, als das kleine Land zwischen die Fronten der Großmächte geriet und kaum eine eigene Identität aufbauen konnte.
Die Ausweglosigkeit der Situation verkörpern zwei Frauen, die als vermeintliche Gegenpole fungieren, doch in letzter Konsequenz mehr Vereinendes als Trennendes gemein haben.
Zwei Frauen, vermeintliche Gegenpole
Aliide, eine alte Bäuerin, schaut durch ihr Fenster, und ihr Blick fällt auf ein Bündel Mensch. Es liegt vor ihrem Hof. Eine junge Frau, zerrissene Strümpfe, blau gefleckte Haut, verfilztes Haar, voller Schmutz und Sperma, wie es später heißt. So trifft Aliide auf Zara, es ist ein Tag im Jahr 1992, an diesem Startpunkt der Inszenierung begegnen sich also eine sehr alte und eine sehr junge Frau, zwei Frauen, die nichts miteinander zu tun haben – vermeintlich!
Aliide, traumatisiert durch das Schreckensregime der Roten Armee wird zur radikalen Kommunistin und zwingt sich zur Hochzeit mit Parteifunktionär Martin (Marius Borghoff), ist jedoch in dieser Ehe nicht ganz bei der Sache, wie sich später herausstellen wird. Zara (Pina Bergemann) ist mindestens ebenso traumatisiert, gedemütigt durch ihren Zuhälter und als „Nutte“ verschachert. Die Eine zerbrechlich in ihrer Stärke, die Andere stark in ihrer Zerbrechlichkeit.
Der Bogen wird im Großen gespannt und kommt letztlich doch auf's Kleinste: Die eigene Familie.
Kleiner Raum ganz groß
Zugegeben, ein Feuerwerk der Inszenierungskunst kann man im doch eher intimen Studio des Kieler Schauspielhauses nicht erwarten und doch versteht man es, die Bühne als Aktionsraum, vielmehr als Aktionsräume, zu nutzen – die Einheit des Ortes herrscht nur vermeintlich vor. Alles geschieht vor den Augen des Publikums und ist oftmals weitaus mehr als „leichte Kost“.
Derbe Dialoge, Obszönitäten, Schizophrenie, teilweise am Rande des guten Geschmacks fungierend, aber eben durchaus passend in ihrer Drastik.
Beeindruckend die Stakkato-artigen Sprechmotetten, die immer wieder als Stilmittel zum Einsatz kommen und den Handlungsstrang in die nächste Ebene überführen.
Claudia Macht stellt glaubhaft die verbitterte Alte dar, die in ihrem Leben viel Leid ertragen musste und ihr Herz zunächst vor der zitternden, zersausten Zara verschließt. Isabel Baumert erklärt mit ihrer Darstellungsweise der verstört-liebenden jungen Aliide, wie aus ihr werden konnte, was sie 1992, dem Zeitpunkt des Aufeinandertreffens mit Zara ist. Pina Bergemann spielt dieses verzweifelte junge Ding vollkommen uneitel mit liebenswerter Naivität und bewundernswerter Entschlossenheit.
Die Akteure – in den männlichen Hauptrollen Rudi Hindenburg und Marius Borghoff – gehen teilweise an Grenzen, schonen sich nicht und leben auf der Bühne das Schreckliche. Im intimen Ambiente wird es für das Publikum greifbar und erfahrbar.
Fazit
Ein großes Stück, das man mit etwas Mut auch auf eine größere Bühne hätte bringen können. Doch vielleicht ist gerade die „Enge“ des kleinen Raums ein Teil der gelungenen Inszenierung, die beeindruckt, verstört und den Zuschauer weit über die reine Spielzeit hinaus zum Nachdenken anregt.
Übrigens: Für 2012 ist eine Verfilmung des Stoffes geplant und in Helsinki versucht man sich sogar an einer Uraufführung als Oper!
Text: Anja Kühl
Fotos: Olaf Struck