Es war wieder ein typisches Holstein-Kiel-Spiel der Saison 2009/10: Beinahe hätten die Störche den ersten Sieg nach zehn Spielen eingefahren – eben nur beinahe. Das 2:2-Unentschieden der Störche gegen Bayern München II war trotz des Punktgewinns im Abstiegskampf wieder kein Schub für die Moral.
Im Gegenteil: Das Ausgleichstor in letzter Minute war ein herber Dämpfer für einen kurz zuvor aufgekommenen Keim Zuversicht auf einen doch noch erreichbaren Klassenerhalt.
Macht man nach einem Fußballspiel den Schiedsrichter für das Ergebnis verantwortlich, setzt man sich leicht dem Vorwurf aus, von der Leistung der eigenen Mannschaft abzulenken. Holstein-Trainer Christian Wück kritisierte in der Pressekonferenz nach dem 2:2-Unentschieden den unparteiischen Thomas Gorniak aus Bremen dennoch für zwei Fehlentscheidungen. Gewiss hatte Holstein wieder selbst für zu wenig eigene Tore und die beiden Gegentore gesorgt, dazu später mehr, aber der 29-jährige Referee hatte wirklich einen schlechten Tag erwischt. In vielen Situationen, in welchen er sich auf seine Assistenten an der Linie verließ, traf er die richtigen Entscheidungen: In der 76. Minute zum Beispiel, als Francky Sembolo per Rückzieher auf Fiete Sykora gelegt hatte, dieser zum vermeintlichen 2:1 eingeschossen hatte, und der Schiedsrichter auf Abseits entschied. Das ganze Stadion tobte anschließend aufgrund der vermeintlichen Fehlentscheidung, aber Gorniak, eher sein Assistent Andreas Robke, hatte richtig gelegen. Der Schiedsrichter hatte vielmehr Probleme mit den zahlreichen Nickeligkeiten: Holstein-Offensivakteur Fiete Sykora hatte sich mehrfach mit Bayern–Keeper Kraft in der Wolle – beide erhielten trotz wiederholter Dispute nur einfach gelb. Oder kurz vor der Pause: Bayern-Youngster Mehmet Ekici hatte sich gleich mit drei Holsteinern angelegt, Marc Heider im anschließenden Zweikampf hart angegangen und der Deutsch-Türke mit sieben Metern Anlauf ein Frustfoul à la Michael Holt begangen – Gorniak beließ es bei Gelb.
Fehlentscheidung mit Folgen
All diese zu weichen Entscheidungen wären vermutlich folgenlos geblieben. Eine Entscheidung aber nicht: Es läuft die 88. Spielminute. Michael Frech fängt einen zu weiten Bayern-Ball ab und fällt vor dem heranstürmenden Nazif Hajdarovic zu Boden. Beim Aufstehen Frechs legt der kurz zuvor eingewechselte Bayern-Stürmer den Arm um Frechs Hals und zieht den Holstein-Keeper am Ohr, sodass dieser aufgrund der Tätlichkeit zu Boden geht. Schiedsrichter-Assistent Sebastian Born winkt sofort mit der Fahne, um Gorniak das unsportliche Verhalten Hajdarovics zu signalisieren. Warum Gorniak den Hinweis seines Assistenten ignorierte und dazu beiden Spielern Gelb, anstatt dem Bayern-Akteur glatt Rot zu zeigen, bleibt sein Geheimnis. Hajdarovic durfte auf dem Feld bleiben, in der 90. Minute das 2:2 köpfen und freudestrahlend nach Spiel den Reportern sagen: „Das Spiel ist für mich gut gelaufen. Bei der Situation mit dem Torwart berühre ich ihn beim Vorbeilaufen etwas. Sowas passiert beim Fußball.“
Ein Sinnbild – Holstein im Jahr 2010: engagierte Leistung, zunächst auch mit Erfolg
Wäre Hajdarovic nicht mehr auf dem Platz gewesen, hätte er wohl kaum das 2:2 erzielt und Holstein wohl gewonnen. Aber Konjunktive gibt es bei Holstein Kiel im Jahr 2010 eben mehr als Tore, Punkte und sämtliche anderen statistischen Werte im modernen Fußball zusammen. Bereits nach 15 Minuten hätte Holstein gut und gerne 3:0 führen können: Lamprecht zielte mitten auf Torwart Kraft, Heider kontrollierte den Ball alleine vor dem Tor nicht, Sembolo verstolperte aussichtsreich ebenso. Es entwickelte sich eine (Abstiegs-)Kampfpartie, in der Holstein den Ton angab und Bayern II nur reagieren konnte. In der 30. Minute dann das 1:0 – nein doch nicht.
Schiedsrichter Gorniak wertete das Luftduell zwischen Cannizzaro und Bayern-Keeper Kraft gegen den Holsteiner. Eine strittige, aber vertretbare Entscheidung, obwohl der Schlussmann außerhalb des Fünfmeterraums bedrängt, den Ball aus den Händen fallen ließ und Cannizzaro eingeschoben hatte. Nachdem der bundesligaerfahrene David Alaba (wurde an diesem Abend gemeinsam mit Mehmet Ekici von HSV-Trainer Bruno Labbadia beobachtet) mit einem 100-Prozenter am glänzenden Michael Frech gescheitert war (38.) und Marc Heider in ebenso guter Position allein vor dem Bayern-Tor über den Ball gehauen hatte, wartete alles auf den Pausenpfiff, als der große Auftritt von Francky Sembolo kam. Massimo Cannizzaro setzte sich energisch gegen zwei Gegenspieler durch, scheiterte mit einem Lupfer aber an Torwart Kraft, Sembolo nahm Anlauf und köpfte den Ball im Höhenflug zum 1:0 ein (42.). Mit Riesenjubel und Euphorie ging es in die Halbzeitpause.
Ein Sinnbild – Holstein im Jahr 2010: individuelle Fehler zerstören Erarbeitetes
Holstein Kiel begann so konzentriert und engagiert, wie es vor der Halbzeit aufgehört hatte. Und auch wenn Holstein-Fans in dieser Saison schon einiges gewöhnt waren, es geht doch noch schlimmer: 57. Minute, langer Befreiungsschlag der Bayern, Christopher Lamprecht versucht vor Bayern-Stürmer Sene und fünf Meter vor Michael Frech seinem Keeper den Ball zuzuköpfen. Der Versuch misslingt, Frech versucht mit einer Hechtsprungreaktion zu retten, was zu retten ist, doch der Ball trudelt zum 1:1 ins Netz. Unglaublich – selbst Bayern-Stürmer Sene schien dieser Ausgleich unangenehm zu sein. Holstein brauchte ein paar Minuten, um sich von diesem Gegentor aus dem Nichts zu erholen und steigerte sich wieder. Zweimal schoss Fiete Sykora den Ball aus Abseitsposition ins Netz (67., 76.), bis beim dritten Mal der Versuch dann endlich zählte: 83. Minute, Konter Holstein, Sykora in den Lauf von Wulff, der mit einem satten Spannstoß den Ball aus 15 Metern an Kraft vorbei ins Tor drosch. Bayern brachte Stürmer Hajdarovic, Holstein den defensiveren Mittelfeldspieler Nouri. Es kam zu beschriebener Szene mit Frech, fehlt noch der Ausgleich: In Höhe der Mittellinie hatt sich Bayern II auf der linken Seite eine Überzahl erspielt, Nouri und Lamprecht stürzten nacheinander auf die Bayern, sodass der flinke Alaba auf der rechten Holstein-Defensivseite freigespielt zum Flankenlauf ansetzte, Holstein noch versuchte auf die gefährdete Seite zu verschieben, am Fünfmeterraum sich Hajdarovic im Rücken von Peter Schyrba wegschlich und nach maßgenauer Flanke von Alaba völlig frei zum 2:2 einköpfte. Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit, Abpfiff.
Holstein Kiel: Frech – Schulz, Rohwer, Schyrba, Jürgensen (ab 22. Siedschlag) – Müller – Lamprecht, Sykora, Heider (ab 74. Wulff) – Sembolo, Cannizzaro (ab 84. Nouri).
Bayern München II Kraft – Rieß, Haas, Schütz, Kopplin – Knasmüller (ab 84. Hajdarovic), Schwarz, Ekici, Alaba – Sene, Yilmaz.
Tore: 1:0 Sembolo (42.), 1:1 Lamprecht (57., Eigentor), 2:1 Wulff (83.), 2:2 Hajdarovic (90.)
Zuschauer 4.754
Stimmen:
Mehmet Scholl (Trainer Bayern München): Im Grund hat nur eine Mannschaft Fußball gespielt und eine Mannschaft welchen Sport auch immer gespielt. Wir haben zu keinem Zeitpunkt zu unserem Spiel gefunden, haben von der ersten Sekunde an Torchancen im Minutentakt zugelassen. Wir haben eine sehr junge Mannschaft, die viele Spiele in den vergangenen englischen Wochen bestritten hat und der ein oder andere Spieler vor solch einer Kulisse, wir spielen eher vor 500 Leuten, doch zu wackeln beginnt. Damit müssen wir leben. Ich habe aber gedacht, wir hätten einen größeren Schritt nach vorne gemacht. Mit dem Ergebnis kann ich leben, mit der Spielweise nicht.
Christian Wück (Trainer Holstein Kiel): Bei mir ist es exakt andersum: Mit der Spielweise kann ich leben, mit dem Ergebnis nicht. Ich kann meiner Mannschaft keinen Vorwurf machen. Sie hat alles in die Waagschale geworfen, um im Abstiegskampf zu bestehen, aber wir kriegen es einfach nicht hin, ohne individuellen Fehler aus 90 Minuten hinauszugehen. Das erste Gegentor war ein Geschenk, das zweite eine Aneinanderreihung von Fehlern, die nicht passieren dürfen. Wir sind alle einfach unheimlich enttäuscht. Letzte Woche haben wir den Schiri gelobt, diese Woche ist es auch mal mein Recht, den Schiri zu kritisieren: Ich denke, es war ein Elfmeter gegen Francky Sembolo und eine rote Karte bei der Aktion mit Michael Frech. Aber letztendlich haben wir es uns wieder selbst zuzuschreiben, und daran werden wir zu knabbern haben.
Massimo Cannizzaro: Mit der Einwechslung von Nouri wollten wir die Defensive stärken und den Sieg nachbringen. Mir fehlen die Worte …
Michael Frech: Der Schiedsrichter-Assistent hatte freie Sicht. Es war eine klare rote Karte.
Tim Wulff: Wir haben derzeit einfach so viel Pech, da fehlen einem die Worte, aber die Köpfe hängen zu lassen, das sind nicht wir und jetzt aufgeben, das sind auch nicht wir.
Foto: Patrick Nawe