- Jamie Cullum kann vieles, nur eins nicht: still am Flügel sitzen. (Bild: Universal/Michael Agel)
- Jamie Cullum 2013 bei einem Auftritt im Hamburger Apple Store am Jungfernstieg. (Bild: Sebastian Schack)
Jamie Cullum gehört zu den ekstatischsten Jazz-Musikern seiner Zeit. Seine Bühnenshows sind mitreißend, seine Songs changieren von einfühlsamen Klängen und sanften Texten bis zu Hymnen, die zum mitgrölen einladen. Ein idealer Künstler für das Schleswig-Holstein Musik Festival also.
Vor 16 Jahren, im Jahr 2003, veröffentlichte Jamie Cullum sein erstes Album „Pointless Nostalgic“, dem noch im selben Jahr „Twentysomething“ nachfolgte. Damit erschien der damals 24-jährige erstmals auf meinem Radar, auch wenn ich nicht behaupten kann, damals schon sein Talent in vollem Umfang erkannt zu haben. Dafür mussten erste weitere 10 Jahre und weitere drei Alben („Catching Tales“, „The Pursuit“ und letztlich „Momentum“) folgen.
2013 dann spielte Jamie Cullum, damals international und vor allem in seiner Heimat, England, schon als wahre Größe seines Fachs bekannt, in Deutschland nicht gerade auf der Straße, aber nur knapp daneben. Mein erstes Jamie-Cullum-Konzert fand am Rande des Hamburger Elbjazz-Festivals im Apple Store Jungfernstieg statt. Also nicht einmal im großen Berliner Apple Store, der für Konzerte eine eigene Bühne im Obergeschoss vorhält. Sondern mit Blick auf die Binnenalster, nach dem Betreten des Apple Stores direkt links in der Ecke, quasi im Schaufenster zwischen Macs und iPads.
Jamie Cullum 2013 bei einem Auftritt im Hamburger Apple Store am Jungfernstieg. (Bild: Sebastian Schack)
„Momentum“ gehört noch heute mindestens in meine persönliche Top-25-Alben-Liste. Mit dem erst vor wenigen Wochen erschienen „Taller“ schließt Cullum für mich daran an. Das dazwischen veröffentlichte „Interlude“ (2014) hingegen ist für mich genau das – ein Zwischenspiel – geblieben.
Große Bühne und große Gesten
Nun springt Jamie Cullum also, zumindest was meine Live-Erfahrung anbelangt, als Kaufhauspianisten direkt auf die größte musikalische Bühne, die Schleswig-Holstein zu bieten hat: die der Sparkassen-Arena zum Schleswig-Holstein Musik Festival. Vollkommen zu Recht sieht man im weiten Rund kaum einen freien Platz. Sein Ruf, nicht nur ein brillanter Sänger und Musiker, sondern auch ein grandioser Entertainer zu sein, eilt ihm voraus.
Das Konzert beginnt verhältnismäßig ruhig: Jamie Cullum solo am Flügel mit einem Medley aus einigen seiner Hits. Schon dabei wird klar, dass es diesen Mann heute nur selten auf seinem Klavierhocker halten wird, dass er für diesen Abend Großes plant.
Und spätestens mit dem Auftreten seiner Band wird diese Vermutung zur Gewissheit. Cullum singt, springt und tanzt wie ein Derwisch über die Bühne, verschafft sich und dem Publikum mit eingestreuten ruhigeren Stücken aber auch immer wieder Atempausen und macht außerdem das, woran mach wahrhaft große Bühnenmusiker erkennt: immer wieder räumt er das Scheinwerferlicht und lässt den Mitgliedern seiner Band Raum, um zu glänzen.
Um den Finger gewickelt hat der fast 40-Jährige das Kieler Publikum als er eine kurze Anekdote zum Besten gibt. Er und die Band, sie alle seien ein wenig angeheitert, weil man in Kiel bereits Käse und Wein, mehr Käse und Wein und Bier gehabt, also das am Wochenende in Kiel ebenfalls stattgefunden habende „Käse trifft Wein“ am Bootshafen besucht habe. Etwas Lokalkolorit aufzunehmen gehört für einen Showman wie ihn mit dazu und garantiert immer Sympathien.
Aber auch ohne einen solchen erzählerischen Ausflug ist das Publikum längst auf seiner Seite. Und bereits etwa zur Halbzeit des Konzerts gibt es langanhaltenden Applaus, sogar stehende Ovationen. Immerhin steht da merklich jemand auf der Bühne, der die Musik liebt, der seine Songs lebt und der sich die Seele aus dem Körper spielt und singt, um mit allen Kräften eine grandiose und mitreißende Show abzuliefern.
Cullum und seine Bandmitglieder wirken trotzdem überrascht und ehrlich erfreut. Vermutlich hatte man ihnen das norddeutsche Konzertpublikum im Allgemeinen und vielleicht das SHMF-Publikum im Besonderen als deutlich reservierter angekündigt, als es an diesem Sonntagabend in der Sparkassen-Arena der Fall ist.
Die Halle zum Club
Das letzte Viertel des Konzerts verbringt der überwiegende Teile des Publikums stehend. Auch wenn nicht alle so mittanzen wollen, wie es Jamie Cullum fordert, sind doch alle mit dem Herzen dabei und praktisch jeder im weiten Rund klatscht und schwingt zumindest je nach individuellem rhythmischen Vermögen eifrig mit. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Cullum zu diesem Zeitpunkt bereits einmal durch die halbe Halle getobt war und die Konzertbesucher auf den „billigen“ Plätzen mit Nachdruck dazu aufforderte, nicht so schüchtern zu sein, und mit ihm nach vorne zu kommen und so den Raum zwischen Bühne und der ersten Sitzplatzreihe zu füllen.
Auf seine Stimme nimmt Cullum während des Konzerts ebenso wenig Rücksicht wie auf sein Instrument. Da wird nicht nur sanft gesungen, sondern auch hemmungslos geschrien. Da werden nicht nur behutsam Tasten angeschlagen, sondern auch Klaviersaiten rabiat und manuell gezupft und gleich der ganze Flügel zu einem Perkussionsinstrument umfunktioniert.
Dass dieser Abend auch für jene auf der Bühne nicht ganz alltäglich ist, wird spätestens bei den Zugaben klar. Ist die erste noch Standardprogramm, improvisiert Cullum bei der letzten, ohnehin schon ungeplant wirkenden, Zugabe allein am Flügel eine Hymne auf Schleswig-Holstein.
Dieses Konzert, dieser Mann, diese Band haben begeistert. Und schon beim Verlassen der Halle sieht und hört man immer wieder Menschen, die in ihre Smartphones starren und mit anderen darüber reden, wann Jamie Cullum wohl das nächste Konzert in der Nähe spielen würde. Nach aktuellem Stand des Tourplans muss man für ein Jamie-Cullum-Konzert in den nächsten acht Monaten, so weit reicht der Konzertkalender auf Cullums Website, allerdings deutlich weiter reisen. Dort finden sich bislang ausschließlich Konzerte in südlicheren Gefilden wie Madrid und Marbella oder aber, im März 2020, im Vereinigten Königreich. Wie leicht dem willigen Konzertbesuch aber insbesondere diese Reisen fallen werden, wird erst noch der Ausgang des Brexit-Debakels – für das sich Cullum auf der Bühne entschuldigte und dem er unter anderem den Song „Mankind“ auf dem aktuellen Album gewidmet hat – zeigen müssen.