In einer ergreifenden Geschichte erzählt uns der Suchterfahrene N. S. von seiner Entwicklung von der Maßlosigkeit zur Enthaltsamkeit. Im persönlichen Gespräch hat er sich geöffnet und uns Einblicke in sein Privatleben gewährt
N.’s Handschlag ist der eines vertrauenswürdigen Verkäufers – nicht zu fest, freundlich, aber bestimmt. Noch einmal erscheint dieser prüfende Ausdruck hinter den dünnen Gläsern seiner schwarzen Ray Ban Brille. Dann, als er zu erzählen beginnt, senkt er den Blick auf die Tischplatte vor sich. Feinsäuberlich angeordnet rahmen dort zwei Becher und ein Süßstoffspender eine große Kaffeekanne. Der 48-Jährige weiß: Seine Suchterfahrung ist eine lange Geschichte.
„Die Spritze war meine Nabelschnur“, erinnert N. sich zunächst an das Gefühl des Rausches, „ich habe mich gefühlt wie im Mutterleib. Das Heroin hat mich fest in den Arm genommen, gehegt und beschützt. Das war Liebe.“ Doch als N. im Alter von 16 Jahren seine ersten Erfahrungen mit dem Drogenmillieu sammelte, waren es noch nicht die Drogen, in die er vernarrt war. Es war die Maßlosigkeit. Er wollte nicht auf Preisschilder sehen, sondern einfach genießen. Die scheinbare Primitivität des Drogenhandels ließ auf den ersten kleinen Verkauf unter Freunden riskantere folgen. Berauscht vom schnellen Geld brach er seine Ausbildung zum Gas- und Wasserinstallateur direkt vor der Abschlussprüfung ab, um sich ganz auf den Drogenhandel zu konzentrieren. Dass N. selbst nicht konsumierte, ließ ihn neben den anderen Dealern besonders zuverlässig aussehen. Schon bald wurden ihm immer größere Mengen Heroin und Kokain anvertraut. Mit den Warenmengen und dem Geldbeutel wuchs die Versuchung. „Irgendwann hat man halt doch genascht“, lacht N., „solange du genug Geld für Nachschub hast, erkennst du in dem Spaß keine Sucht.“ Eine erste Bewährungsstrafe konnte den euphorisierten Blick auf die Suchtmittel und die herrlich unbescheidene Welt, die sie eröffneten, nicht trüben. Auch die zweite Verurteilung und somit die erste Haft konnte der Gier keinen Riegel vorschieben. „Die Erinnerung an meine Begegnung mit dem Haftrichter ist sehr verschwommen. Auch als die Zellentür hinter mir zufiel, realisierte ich nichts außer des Schmerzes“, berichtet N. von seinem ersten kalten Entzug. Er erinnert sich genau an die extremen Gliederschmerzen, starke Magenprobleme – und vor allem diese Gemütsschwankungen zwischen Lachen und Weinen, die sein damals 20-jähriges Selbst in der Strafvollzugsanstalt in Meppen auszustehen hatte. Auf der Suche nach treffenden Worten beschreibt N. seinen damaligen Zustand als die schlimmste Grippe, die man sich vorstellen könne, nur eben noch viel vernichtender. Als er nach einigen Tagen des Entzugs wieder zu sich kam und der Blick auf die anderen Insassen an Schärfe gewann, entdeckte er bekannte Gesichter – und somit schon bald die Gelegenheit, der weiteren Abstinenz zu entgehen. „Jeder geht anders durch die Haft. Für mich drehte sich alles um alte und neue Kontakte. Wer dafür bekannt war, nicht zu denunzieren, konnte auch den Einkauf manipulieren oder über eine Simulation vor dem Gefängnisarzt Haschisch oder Heroin beschaffen.“
Gelang es N. auch, seine Drogensucht zu befriedigen, machte ihm der Freiheitsentzug jedoch mehr und mehr zu schaffen. Als die Restdauer seiner Haft weniger als zwei Jahre betrug, erlaubte es ihm das Gesetz, die Therapie der Haft vorzuziehen. In seiner Heimat Hannover warteten zu viele Erinnerungen, die den Entzug gefährdet hätten. So wählte N. das Horizon-Therapiezentrum in Kiel als Ort für seinen Neuanfang.
„Die Hilfe konnte ich zunächst gar nicht annehmen. Nach einem Tag bin ich nach Hause abgehauen, um alles nachzuholen, was ich im Knast vermisst hatte.“ Doch als nach der ersten Party der Rausch nachließ, zeigte der Verstand wieder die zwei einzigen Optionen auf: Entzug oder Gefängnis. Sechs Tage dauerte es, bis N. voller Reue in die Einrichtung in der Auguste-Viktoria-Straße zurückkehrte. Was er hier erlernte, war eine neue Struktur. Vier Monate lang stand N. jeden Tag mit den anderen Bewohnern seiner betreuten Wohngemeinschaft auf, um mit dem Bus in die Werkstatt der Einrichtung zu fahren. Und zwischen Holzspänen, Werkzeugen und den Gleichgesinnten wurde der junge Mann, der sich eigentlich nur die Freiheit gewünscht hatte, clean: „Es war ein schwerer Prozess. Aber im Großen und Ganzen hat mich meine erste Therapie über 16 Jahre von den Drogen ferngehalten.“
Rückfälle gab es. Wenngleich N. nach einigen Jahren an einem Silvesterabend dem Kokain nicht widerstehen konnte, gelang es ihm doch, am nächsten Morgen von neuem den Entzug zu beginnen und durchzuhalten. Ein neuer Job sowie der Kontakt zu seiner Familie und seiner Freundin gaben ihm Sicherheit. Seine Psyche heilte immer weiter aus, nur seinen Körper konnte der Entzug allein nicht wieder genesen. Die Nieren hatten unter den Jahren des Konsums schwer gelitten, doch das war längst nicht alles. Drei Jahre lang widmete N. seine Kraft dem Kampf gegen Hepatitis C und dem folgenden Entzug des Polamidons, wovon ihn die Behandlung abhängig gemacht hatte. „Es ist nicht leicht für einen Junkie, ein Schmerzmittel zu finden. Polamidon setzt sich im ganzen Körper fest. Dessen Entzug war für mich fünf Mal schlimmer als der des Heroins“, erzählt N. von der Entwicklung zu seinem ersten großen Rückfall. Denn als er nach der Behandlung seinen Job verlor und kurze Zeit später auch seine Beziehung in die Brüche ging, fielen die Säulen der Sicherheit, die N. sich so mühsam aufgebaut hatte, in sich zusammen. „Wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich mein Geld bald wieder mit Dealen verdiene und dem Rausch verfalle, hätte ich mir beide Hände abgehackt“, so der 48-Jährige.
Das Schlüsserlebnis, das N. brauchte, schenkte ihm sein damals 14-jähriger Sohn. Er spürte, dass mit seinem Vater etwas nicht stimmte und wollte den Kontakt abbrechen. Von der Verlustangst motiviert, konnte N. den 14-tägigen Entzug durchhalten. Doch als er im Anschluss keinen Therapieplatz erhielt, rief er umgehend seinen Dealer an. Als er es voller Verzweiflung direkt noch einmal versuchte, hatte er mehr Glück. Ein Platz in der altbekannten betreuten Wohngemeinschaft in Kiel und der teilstationären Therapie des Horizon-Zentrums gaben ihm nach dem Entzug den Halt, den er brauchte.
Seit über Jahren ist N. nun wieder abstinent. Erlaubt es ihm seine körperliche Verfassung auch nicht mehr, in der Werkstatt der Einrichtung zu arbeiten, gibt doch eine neue Leidenschaft seinem Alltag Struktur: „Ich habe mir gedacht: Wenn du schon am reißenden Fluss stehst, musst du das Ufer wechseln.“ Ob als Gastredner in der Universität oder bei Kochveranstaltungen mit anderen Süchtigen – N. findet heute seine Kraft darin, eigene Erfahrungen weiterzugeben und so anderen Suchterfahrenen zu helfen. Eine Umschulung mit pädagogischem Hintergrund soll es in der Zukunft ermöglichen, finanziell unabhängig zu werden, ohne die Vergangenheit verbergen zu müssen. „Mein Bruder hat mal zu mir gesagt: ,Wenn du abends im Bett liegst, an die Zimmerdecke blickst und nicht an Drogen denkst – dann hast du es geschafft.’ Heute denke ich vor dem Einschlafen an meinen Sohn oder den nächsten Angelausflug.“ Gehört es auch zu seinem Alltag, seine besondere Geschichte zu erzählen, ist es doch erleichternd, bei diesem Kapitel angekommen zu sein. Denn am Ende ist er noch lange nicht.