Jeden Monat wagt KIELerLEBEN-Redakteurin Jana Kringel einen spannenden Selbstversuch. Im Februar hat sie an einer Tanzstunde für Rollstuhlfahrer teilgenommen.
Es ist 16.45 Uhr. Als ich den Verein Tanzen in Kiel im Suchskrug betrete, bin ich aufgeregt. Ich habe einen Termin mit Tanztrainerin Corinna Balzer und werde an meiner ersten Tanzstunde im Rollstuhl teilnehmen. „Hier hinten“, höre ich eine Stimme hinter einer Trennwand rufen. Dann entdecke ich Corinna und ihren Mann Klaus am anderen Ende des Saals. Beide empfangen mich herzlich – sie fest auf beiden Beinen stehend, er sitzend im Rollstuhl. Ich erfahre, dass Klaus nach einem Arbeitsunfall seit ein paar Wochen beim Tanzen an den fahrbaren Untersatz gebunden ist. „Das ist für uns gar kein ungewohnter Anblick. In den Tanzstunden mit unseren Rollis sitzen wir auch ständig im Rollstuhl“, erklärt Corinna.
Bevor die Rollis und Fußtänzer eintreffen, haben wir Zeit, uns noch ein bisschen auszutauschen. Corinna erzählt mir, dass sie mal auf einer Revue gewesen ist, bei der auch Rollstuhlfahrer zugeschaut haben. „Ich habe mir gedacht, da muss man doch etwas machen, dass diese Menschen nicht bloß Zuschauer sein können.“ Gesagt, getan. Die Tänzerin absolvierte eine Ausbildung zur Übungsleiterin für Menschen mit und ohne Behinderung. Vor knapp zwei Jahren hat sich die Rolli-Tanzgruppe bei Tanzen in Kiel unter der Leitung von Corinna dann zum ersten Mal getroffen. Heute besteht sie aus sieben Rollstuhl- und sieben Fußtänzern. Im Norden ist Tanzen in Kiel der einzige Verein, der neben Turniertanz, orientalischem Tanz oder Hip-Hop auch Tanzsport für Rollis anbietet.
Jetzt ist es Zeit für mich, mich schon einmal an den Rollstuhl zu gewöhnen. Ich nehme Platz in einem roten Exemplar. Etwas unsicher fühle ich mich, als ich die Füße auf die dafür vorgesehene Trittfläche stellen soll. „Hände auf zwölf Uhr“, sagt Corinna. Ich befolge ihre Anweisung und setze die Hände an beiden Seiten auf zwölf Uhr an das Rad des Rollstuhls. „Jetzt den Oberkörper nach vorne und die Hände nach unten führen, bis auf drei Uhr“, weist sie mich weiter an. Ich tue, was sie sagt. Vorsichtig setzt sich mein Rollstuhl in Bewegung. „Jetzt den Oberkörper zurück an die Lehne und vorsichtig deinen Griff am Rad verstärken.“ Langsam komme ich zum Stehen. Schub geben und anhalten kann ich jetzt schonmal.
Plötzlich steht Corinna vor mir und sagt mir, ich solle meinen Oberkörper von der Rückenlehne meines Rollstuhls lösen und ihr meine Hände reichen. Ich soll lernen, wie ich auch ohne meine Hände in Bewegung komme. „Becken nach vorne. Drück deine Hände gegen meine“, erklärt Corinna. Nach ein paar Versuchen habe ich den Bogen raus. Bewege ich mein Becken wieder nach hinten, bremse ich. Nächste Übung: Neigung erzeugen, um beim Tanz eine neue Richtung anzuzeigen. Mit der Hand am Rad ist es ganz einfach: Ziehe ich nur mit der rechten Hand von drei auf zwölf Uhr, drehe ich nach rechts. Genauso funktioniert es mit der linken Seite. Und ohne Hände? „Dreh deine Hüfte nach rechts ein“, sagt Corinna, „und lasse deine rechte Schulter fallen.“ Sie führt mich vor mir stehend mit beiden Händen, ohne mich dabei zu ziehen. Als ich meine Hüfte eindrehen will, richte ich automatisch beide Beine in die gleiche Richtung und will damit Schwung holen. „Nein, nein! Nur die Hüfte“, ermahnt Corinna mich. Und siehe da – es funktioniert.
Es ist jetzt kurz vor halb sechs. Die ersten Rollis kommen in Begleitung ihrer Fußtanz-Partner in den Saal gefahren. Ich lerne Karl Hesse aus Plön kennen, der 1969 einen Unfall hatte. Seitdem leidet er unter einer inkompletten Querschnittslähmung und kann vor allem die Füße und Unterschenkel nicht bewegen. Seine Tanzpartnerin ist seine Frau Inge. Für Karl ist der Rollstuhl-Tanzsport nicht mehr wegzudenken: „Es ist nicht nur eine sportliche, sondern auch eine mentale Herausforderung.“
Bisher haben sich Fuß- und Rollstuhl-Tänzer damit vertraut gemacht, wie sie sich – im Hinblick auf das individuelle Handicap der Rollis – überhaupt miteinander bewegen können. Dabei haben die Fußtänzer ihre Tanzpartner teilweise gezogen oder geschoben. „Heute seid ihr gefragt, Körpereinsatz zu zeigen, um euren Tanzpartnern ein großes Stück Arbeit abzunehmen“, bereitet Corinna die Rollis vor.
Nach und nach geht sie mit der Gruppe die Übungen durch, die ich schon kennengelernt habe. Die 19-jährige Lea Pape, selbst aktive Tänzerin, übernimmt jetzt den Fußtanz-Part an meiner Seite. An die „Aushilfsstelle“ als Fußtänzerin ist sie über ihre Mutter Frauke gekommen, die vier Mal in der Woche bei Tanzen in Kiel tanzt. „Ich wollte mal einen Rollstuhlfahrer zum Tanzen auffordern und habe mich nicht getraut. Dann bin ich Teil der Gruppe geworden. Ich finde es unglaublich, was Menschen mit Behinderung leisten können“, sagt Frauke anerkennend. Schub geben, Neigung erzeugen, 1,2,3 … 1,2,3, … in diesem Takt müssen wir Rollis das Becken bei dem langsamen Walzer, den wir jetzt tanzen, heben und senken. Die Hände drücken sanft gegen die Hände des Fußtänzers, der im selben Takt rückwärts vor uns her läuft.
Über eineinhalb Stunden sind schließlich vergangen – körperliche Höchstleistung vor allem für die Rollis. Was sich dann in den letzten 20 Minuten abspielt, kann ich kaum glauben. Jetzt zeigt sich, was die Rollstuhl- und Fußtänzer in den letzten Monaten wirklich gelernt haben: Als „Ma Chéry“ über die Lautsprecher ertönt, wird ausgelassen Disco-Fox getanzt. Die Rollis haben dabei immer eine Hand am Rad, eine Hand am Tanzpartner. Im Takt geht es vor und zurück, es wird sogar eifrig gedreht.
Am Ende meiner Tanzstunde habe ich gelernt, dass Tanzen auch im Rollstuhl Spaß und Ausgelassenheit bedeutet. Auch, wenn es eine Einschränkung in der Bewegungsfreiheit gibt …
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Kontakt: Tanzen in Kiel, Suchskrug 1, 24107 Kiel,
Tel.: (0431) 32 90 39 17
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