Jede siebte Frau in Deutschland hat schon einmal sexuelle Gewalt im Sinne des Strafrechts erlebt. Im Jahr 2019 wurden in Kiel 276 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung bekannt. Mit einer Ausstellung möchte Emely Egerland auf die Situation aufmerksam machen. Vor allem geht es aber darum, wie mit den Betroffenen nach der Tat umgegangen wird. Vielen wird mit einer einzigen Frage die Schuld zugewiesen: „Was hattest du an?"
KIELerleben: Deine Ausstellung behandelt die Themen sexuelle Übergriffe und falsche Opferschuld. Warum ist das so ein wichtiges Thema?
Emely Egerland: Ich glaube, es ist ein riesiges Gesprächstabu und alleine deshalb muss es angesprochen werden. Ebenso wie Rassismus und andere Themen, die gerade (Stand August) zum Glück in den Fokus geraten, ist es etwas, das zu wenig thematisiert wird und wozu es offensichtlich immer noch eine Gegenseite gibt. Solange das so ist, muss man darüber reden und etwas verändern. Es interessiert die Leute. Aber wie Angehörige und Betroffene nach einer Tat damit umgehen, wird oft vergessen und ist in den Medien wenig präsent.
Meinst du, die Rassimusdebatte fördert das Interesse am Thema deiner Ausstellung?
Es ist vielleicht generell gerade eine Zeit, in der sich Leute ausführlicher mit sich selbst und solchen gesellschaftlichen Themen beschäftigen. Vielleicht auch coronabedingt. Es werden zurzeit einige Dinge hinterfragt und vielleicht sogar Tabus gebrochen. Für unsere Ausstellung passt das gut. Joko und Klaas haben uns zum Beispiel auch mit ihrem Männerwelten-Beitrag sehr in die Karten gespielt. Alle, die den gesehen haben, wussten direkt, worum es bei uns geht. Das hat uns viele Türen geöffnet.
Wie seid ihr auf die Idee gekommen, so eine Ausstellung zu organisieren?
Durch mein Auslandsjahr an einer amerikanischen Highschool habe ich noch immer viele Freunde dort. Eine Freundin hat mal einen Link geteilt zu einer amerikanischen Ausstellung, die genau dieses Thema behandelt. Ich war davon so begeistert und habe dann mit meinem Freund René überlegt, wie man das auch selbst auf die Beine stellen könnte.
Wie ging es dann weiter?
Kurz vor Weihnachten 2019 ist René zufällig auf eine Anzeige von Kiel-Marketing aufmerksam geworden, in der Bewerber für den Pop-up Pavillon gesucht wurden. Wir haben dann spontan ein Konzept erstellt und uns in letzter Sekunde beworben. Seit der Zusage ist das Projekt von Tag zu Tag größer geworden.
Wie groß?
Ursprünglich wollten wir die Ausstellung eher klein aufziehen, in der Hoffnung, dass es vielleicht auch ein paar andere Leute interessieren könnte. Aufgrund der so positiven Resonanz gibt es aber mittlerweile Überlegungen, die Ausstellung auch langfristig weiterlaufen zu lassen und durch Deutschland zu schicken. Anfragen aus verschiedenen Städten liegen bereits vor.
Woher erreichen euch die Geschichten?
Bisher kommen die Geschichten überwiegend aus Schleswig-Holstein. Da die erste Ausstellung in Kiel stattfindet, haben wir den Anspruch, wirklich norddeutsche bzw. schleswig-holsteinische Geschichten zu zeigen. Wir benennen zwar nie konkrete Orte, aber mit dem Wissen, dass eine Tat in der Nähe passiert ist, berührt die Ausstellung vielleicht noch mehr.
Und wie erreichen euch die Geschichten?
Die Betroffenen kontaktieren uns direkt. Besonders über Social Media haben wir uns mittlerweile eine gewisse Reichweite aufgebaut und unsere Glaub- und Vertrauenswürdigkeit gestärkt. Die Betroffenen wissen, beispielsweise durch einen Hinweis auf unserer Website, dass wir nach norddeutschen Geschichten suchen. Ich bin wirklich dankbar, dass uns die Menschen so sehr vertrauen, dass sie sich dazu entschließen, etwas so Privates und Persönliches mit uns zu teilen.
Haben dich die Geschichten selbst schon verändert?
Ich glaube schon. Ich bin selbst betroffen. Das ist wahrscheinlich auch Teil meiner Motivation dahinter. Vielleicht ist die Durchführung der Ausstellung für mich eine Art Therapie. Ich habe selbst bisher keine gemacht, habe meine Geschichte gerne ins Unterbewusstsein verdrängt und lange nicht darüber gesprochen. Dadurch, dass ich mich jetzt wirklich täglich zwar nicht direkt mit meiner Geschichte, aber doch mit der Thematik beschäftige, habe ich das Gefühl, dass viel bei mir passiert. Bisher ist es sehr positiv. Ich habe das Gefühl, durch diesen Prozess bestücke ich diese so negative Erinnerung mit ganz viel Positivem. Das fühlt sich richtig an.
Du redest mittlerweile sehr offen darüber, dass du betroffen bist.
Es war eine große Überlegung, ob ich überhaupt sage, dass ich betroffen bin. Muss man es sagen? Ich glaube, dass es den Leuten leichter fällt, zu verstehen, dass ich da so viel Energie reinstecke, wenn sie diesen Hintergrund kennen. Vielleicht macht es das greifbar. Ich würde mir allerdings wünschen, dass der Fokus weniger auf mir liegt, sondern eher auf der Thematik generell und dem problematischen Umgang mit Betroffenen.
Wie wird die Ausstellung konzipiert?
Die Outfits, die der Kleidung der Opfer zum Zeitpunkt des Übergriffs nachempfunden sind, bilden den Kernbestandteil. Wir zeigen das Gedicht „What I was wearing“ von Mary Simmerling, wie in der US-Ausstellung. Es gibt Zahlen und Fakten, also statistisches Wissen. Unsere Botschafter erhalten einen Platz, außerdem wollen wir positive und negative Beispiele im Umgang mit Betroffenen zeigen. Und dann gibt es einen Bereich, in dem die Besucher*innen selbst ihre Gedanken teilen und die Ausstellung aktiv und anonym mitgestalten können.
Welche Art Kleidungsstücke präsentiert ihr?
Das ist total unterschiedlich. Vom Kinderbikini bis hin zum Rollkragenpulli. Schlafanzug, Jogginghose, Businesskleidung. Wir zeigen auch ein kurzes Sommerkleid, bei dem der ein oder andere sagen könnte: „Aha, hier haben wir doch den kurzen Rock!“ Aber darum geht es ja auch: zu zeigen, dass ein Outfit weder vor einer Tat schützt noch dafür verantwortlich ist. Die Outfits sind sehr durchmischt und dadurch greifbar. Vielleicht hat man ein ähnliches Outfit selbst im Schrank, sodass man sich umso mehr mit den Betroffenen identifiziert.
Wie sollte man denn mit den Betroffenen umgehen?
Es gibt dafür kein Regelbuch, weil es bei jedem anders ist. Was für mich funktioniert, kann sich für andere falsch anfühlen. Aber es gibt ein paar generelle Dinge, die man berücksichtigen kann, mit denen man wahrscheinlich nicht falsch liegt: keine Vorwürfe machen, nicht hinterfragen und einfach da sein, wenn man kann. Das Thema vertraulich behandeln, keinen Druck aufbauen, sondern lieber konkrete Hilfe anbieten, ohne sie aufzudrängen.
Ausstellung: Was hattest du an?
Wann: 28. November bis 19. Dezember 2020
Wo: Pop-up Pavillon, Alter Markt, Kiel