Nina Vieten erweckt in diesem Stück eine einzigartige Figur zum Leben, die es fast nicht gegeben hätte.
„Tschick“, das ist einer der ganz großen deutschen Jugendromane der jüngeren Vergangenheit. In der Geschichte des 2013 nur 48-jährig viel zu früh verstorbenen Wolfgang Hermsdorf handelt von einer ungewöhnlichen Freundschaft, im Laufe derer die beiden Protagonisten sich auf einmal in einem Lada Niva auf dem Weg in die Walachei befinden. Unterwegs begegnen sie der burschikosen Isa Schmidt, die das chaotische Trio komplettiert.
Mit „Bilder deiner großen Liebe“ begann Herrndorf einen zweiten Roman im „Tschick“-Kosmos, der Isas Geschichte erzählt. Vollenden konnte er das Werk vor seinem Freitod allerdings nicht mehr. Glücklicherweise entschieden sich mit Marcus Gärtner und Kathrin Passig zwei Menschen aus dem engen Umfeld Hermsdorfs das Romanfragment 2014 zu veröffentlichen – einem erklärten Wunsch des Autors folgend.
„Bilder deiner großen Liebe“ ist dabei in vielerlei Hinsicht noch bahnbrechender, noch außergewöhnliche als der nicht zu knapp gefeierte Vorgänger „Tschick“. Keine leichte Aufgabe also, dieses Werk auf die Bühne zu bringen.
Nur im Kopf oder doch real?
Isa Schmidt ist 14 Jahre alt und bricht direkt zu Beginn ihrer Reise aus einer Anstalt aus, lernt einen Schiffskapitän kennen, der früher einmal ein (erfolgreicher) Bankräuber war und gerät in so manch nicht ganz ungefährliche Situation. Nina Vieten gelingt es glänzend, nicht nur als Isa durch die Geschichte zu führen, sondern auch das Chaos im Kopf der Hauptfigur manchmal sogar beängstigend glaubhaft und eindrucksvoll zu transportieren.
Vietens Isa poltert mal wütend über die Bühne, ist mal leise, mal nachdenklich, mal frech und beizeiten aufreizend und lasziv. In all dem aber immer liebenswert. Isa hat Herz, ist clever, abenteuerlustig und hat Lust auf das Leben. All das machte Isa schon in „Tschick“ zur interessantesten aller Herrndorf-Figuren. Derjenigen nämlich, die die Leser:innen am meisten zum Nachdenken anregt, die am längsten im Kopf bleibt. Vieten schafft es, diesem Anspruch ohne Zweifel gerecht zu werden.
All das gelingt Vieten jedoch nicht allein. Mit ihr auf der Bühne steht Felix Zimmer, der gleich eine Vielzahl von Rollen übernimmt – von einer Stimme in Isas Kopf bis zum Flussschiffer. Zimmer ist es, der dem Stück einen Rahmen, einen roten Faden gibt. Denn seine Figuren sind es, die die Handlung und Vorgänge in Isas Kopf kommentieren, sortieren, einordnen.
Das Gelingen dieses Stücks ist natürlich auch Regisseurin Charlotte Sofia Garraway zuzuschreiben, die den alles andere als trivialen Stoff in wundervoller Form auf die Studio-Bühne des Schauspielhauses gebracht hat und damit zugleich ihren Einstand in Kiel gibt.
Wer sich gemeinsam mit Isa auf den Weg durch diese „Road-Novel zu Fuß“ begeben möchte, hat dazu noch am 27.10. und am 11.11.2022 Gelegenheit. Karten gibt es auf www.theater-kiel.de sowie telefonisch unter 0431 901 901.