Da liegt sie, nackt unter dem Laken. Der alte Mann spricht noch ein paar Worte. Gleich wird die Dame in Blau den Raum verlassen. Das Mädchen ist bewusstlos, trank ein Betäubungsmittel. Ungewöhnlich? Nicht so in „Sleeping Beauty“, dem Erstlingswerk der australischen Regisseurin Julia Leigh.
Doch gehen wir zurück auf Anfang, zur ersten Szene. In einem Labor schluckt Lucy widerstandslos einen Katheter die Speiseröhre herunter. Das Mädchen ist Studentin und knapp bei Kasse. Sie jobbt als Versuchskaninchen, putzt in einer Kneipe und kopiert in einem Büro. In schicken Bars verabredet sie sexuelle Kontakte mit wohlsituierten Herren. Ihre Wohngemeinschaft feindet sie an. Ihr engster Freund ist ein erfolg- und sexloser Intellektueller. In weißem Hemd und hellgrauem Anzug empfängt er sie zu gemeinsamem Schnapskonsum in seiner Einzimmerwohnung.
Dies alles erfährt der Zuschauer gleich in den ersten Minuten in wenigen, wohl komponierten Szenen. Ohne Aufbegehren lebt Lucy durch dieses Leben. Eines Tages entdeckt sie eine Anzeige, ein weiterer Nebenjob. Dort arbeitet sie zunächst als Servierdame in Unterwäsche für feine Diners älterer Herrschaften. Die helle Makellosigkeit ihres Leibes nimmt Ihre Chefin Rachel für die junge Studentin ein. Lucy wird eine Sleeping Beauty. Betäubt durch Drogen liegt sie in feinem Ambiente nackt im großen Bett. Alte, weißhaarige Männer bezahlen dafür, sich mit der Wehrlosen vergnügen zu dürfen.
Penetration nur im Labor
Penetration ist dabei streng tabu. Den Kunden wiederum wird allerstrengste Diskretion zugesagt. Lucy macht mit und führt zugleich ihr bisheriges Leben weiter. Es läuft nicht alles glatt, aber sie geht ihren anderen Jobs nach und ist im Hörsaal zu sehen. Dann aber fragt sie nach: Was geschieht mit ihr, wenn sie bewusstlos ist? Sie erwirbt eine kleine, etwa erbsengroße Kamera. Sie will wissen, nimmt nicht länger nur hin und dies bricht den Bann, der auf allem zu liegen schien.
Dieser Bann legt sich auch auf die Zuschauer. Julia Leigh arbeitet mit langen Einstellungen und sparsamer Kameraführung. Sie verzichtet auf schnelle Schnitte und gibt dem Spiel der Darsteller Raum. Emily Browning brilliert in der Rolle der Lucy als zartes, milchhäutiges Geschöpf. Sie versteht es mit hinnehmendem Ausdruck bei sich selbst zu sein und gibt der vieles ertragenden Lucy eine natürliche Würde. Julia Leighs bisweilen als europäisch bezeichneter Stil und Emily Brownings überzeugendes Spiel vereinen sich zu einer ungeahnten Selbstverständlichkeit des Geschehens. Jenseits zwanghaft psychologisierender Motivierung bleibt der Film auch in fast unwirklichen Momenten glaubwürdig im wie von selbst ablaufenden Leben der jungen Lucy.
Ein intensives Filmerlebnis
Dies führt zu einem intensiven Filmerlebnis voll anregender Momente. Dabei erfreuen immer wieder auch Brownings Mitdarsteller. Als einer sei Peter Carroll genannt, der den ersten alten Mann beeindruckend würdevoll und ehrlich verkörpert. In einer Szene sitzt er auf dem Bett der jungen Nackten. Die Kamera fährt heran, zeigt nur das weißbärtige, schmale Gesicht vor der dunklen Mahagoniverkleidung der Schlafkammer. Der Mann spricht über Ingeborg Bachmanns Erzählung „Das dreißigste Jahr“ und wandert hiervon zur Erzählung seines eigenen Lebens. Er schließt mit: „Mein Knochen sind alle gebrochen, alle.“
Julia Leighs Erstlingswerk "Sleeping Beauty" lief im Mai 2011 bei den Filmfestspielen in Cannes im Wettbewerb und im Oktober 2011 beim 4. Fetisch Film Festival in Kiel. Das hiesige Publikum wählte Emily Browning als Lucy zur besten Darstellerin.
„Sleeping Beauty“ ist vom 23. – 29. Februar 2012 täglich um 17.45 Uhr in englischer Originalfassung im Traum-Kino, Grasweg 19 in Kiel zu sehen.
sleepingbeautyfilm.com
traum-kino-kiel.de