Tschaikowski gehört zu den bekanntesten Komponisten überhaupt und schuf viele Werke von Weltrang. Jetzt feierte die weniger oft inszenierte Oper „Iolanta“ in Kiel Premiere.
Schwanensee, Nussknacker, Eugen Onegin, die Manfred-Sinfonie – wer zwei funktionierende Ohren hat, hat im Leben garantiert schon das eine oder andere Werk des 1840 geborenen Pjotr Iljitsch Tschaikowski gehört. Seine letzte Oper „Iolanta“ (in Deutschland oft auch „Jolanthe“) nach einem Libretto seines Bruders Modest, das wiederum auf einem dänischen Schauspiel von Henrik Hertz („Kong Renés Datter“, König Renés Tochter) basiert, gehört vielleicht nicht unbedingt dazu. Zu Unrecht! Denn die am 18. Dezember 1892 zusammen mit dem Nussknacker-Ballett uraufgeführte Oper hat weit mehr zu bieten, als die oberflächliche Liebesgeschichte zwischen der titelgebenden Iolanta und Graf Vaudémont. Aber greifen wir nicht zu weit vor.
Die nur 90-minütige Oper erzählt die Ereignisse eines einzigen Tages auf einem Schloss in der französischen Provence. Dort lebt König René (Matteo Maria Ferretti) mit seiner Tochter Iolanta (Adèle Lorenzi-Favart). Iolanta ist von Geburt an blind, ihr Vater hält es aber für das Beste, seiner Tochter nicht zu erklären, dass ihr ein Sinn fehlt. Abgeschottet von der Welt verbringt Iolanta ihre Zeit mit nur wenig menschlichem Kontakt, abgesehen von ihrer Amme Marta (Maria Gluck) und ihren beiden Freundinnen Laura und Brigitta (Tania Jibladze, Xenia Cumento). Bei Strafe ist es ihnen, wie überhaupt allen, die zu Iolanta gelassen werden, verboten, mit ihr über das Sehen oder das Licht zu sprechen.
René ist jedoch keineswegs Willens, die Blindheit seiner Tochter zu akzeptieren und so holt er den maurischen Arzt Ibn-Hakia (Alexey Zelenkov) an den Hof, auf dass er Iolanta heile. Ibn-Hakia untersucht die sie und gibt Anlass zur Hoffnung: Eine Heilung sei möglich! Allerdings, so der Arzt, müsse dazu Iolanta zunächst über ihren Zustand aufgeklärt werden. Sie selbst müsse das Sehen herbeisehnen, damit die Heilung gelingen könne. Ein Umstand, mit dem sich der König nicht anfreunden kann. Ibn-Hakia gibt ihm bis zum Abend, um sich zu entscheiden.
Diese Entscheidung jedoch wird dem König alsbald abgenommen. Zwei Männer, Robert, der Herzog von Burgund (Dmitry Lavrov) und Vaudémont, ein burgundischer Graf und Roberts Begleiter (Ragas Eldin), verirren sich in den eigentlich gut geschützten und abgeschotteten Rosengarten des Schlosses. Ohne zu wissen, wo genau sie sich befinden, treffen die beiden auf Iolanta. Auch Robert erkennt die Königstochter nicht, obwohl sie ihm schon seit Kindertagen zur Frau versprochen ist.
Vaudémont verliebt sich sofort in Iolanta. Während Robert, der eine Falle wittert, sich auf den Weg macht, um mit seinem Heer wiederzukehren, bleibt der Graf. Während seiner Unterhaltung mit Iolanta bittet er sie, ihm eine rote Rose zu pflücken, die ihn an das Rot ihrer Wangen erinnern soll. Eine Aufgabe, die für Iolanta nicht zu meistern ist. So wird Vaudémont bewusst, dass seine Angebetete blind ist. Ohne von den Strafandrohungen des Königs zu wissen, klärt er Iolanta über das Gottesgeschenk des Lichts und damit auch des Sehens auf.
Als der König mit dem Ibn-Hakia zurückkehrt und erfährt, dass seine Tochter von der Wahrheit weiß, beauftragt er den Arzt umgehend mit der Behandlung zu beginnen. Damit sich seine Tochter die Fähigkeit des Sehens auch wirklich sehnsüchtigst wünscht, droht er Vaudémont mit dem Tod für den Fall, dass die Behandlung fehlschlagen sollte.
Noch während der Sitzung hält Vaudémont bei René um Iolantas Hand an. Eine Bitte, der der König nicht stattgeben kann, schließlich ist sie bereits Robert versprochen, der wie auf Stichwort ebenfalls am Ort der Handlung eintrifft. Allerdings: Robert ist seinerseits in Matilde, die in der Oper keine weitere Rolle spielt, verliebt und so entbindet der König den Herzog von seiner Pflicht und ist bereit, seine Tochter Vaudémont zur Frau zu geben.
Als Ibn-Hakia und Iolanta zurückkehren ist diese tatsächlich geheilt und kann sehen, was die Oper für alle beteiligten zu einem glücklichen Ende führt.
Bühnenbild wie aus einer anderen Welt
Was nach einer für die Zeit nicht untypisch platten Romanze klingt, hat in Wahrheit mehrere Ebenen, die nicht nur an das Leben Tschaikowskis erinnern, sondern auch Anknüpfungspunkte an die damals neuesten Erkenntnisse von Sigmund Freud bieten. Diese fasste der weltbekannte (wenn auch nicht unumstrittene) Psychoanalytiker Jahre später in seinem Aufsatz „Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung“ zusammen.
Zu dieser Verbindung passend wirkt die obere Hälfte des Bühnenbildes so, wie die meisten Menschen wohl ein Behandlungszimmer Freuds zeichnen würden. Und natürlich handelt es sich bei Ibn-Hakias Wirken auch nicht um einen medizinischen Eingriff, sondern um eine psychotherapeutische Leistung.
Der andere Teil des Bühnenbildes, der Rosengarten, in dem wir nicht nur auf Iolanta, sondern überhaupt auf alle Figuren zum ersten Mal treffen, ist in der Kieler Inszenierung kein farbenfrohes Blumenmeer. Im Gegenteil: Grau und gefährlich wirkend ranken sich die Pflanzen umeinander und über die Bühne. Der Großteil des Rankenwerks entstammt dabei einem besonders dicken Bündel, das dem direkt darüber befindlichen Schlaf- und Behandlungsplatzes Iolantas zu entwachsen scheint. Eine Verbindung zweier Welten, wie sie uns in jüngerer Vergangenheit etwa in dem Serien-Welterfolg „Stranger Things“ mit dem „Upside Down“ begegnet ist.
Mit diesem Bühnenbild gelingt es dem Team um Regisseur Carlos Wagner, Ausstatter Christophe Ouvard und Dramaturgin Dr. Waltraut Anna Lach eine „Iolanta“ auf die Bühne zu bringen, die viel Raum für den Transport von Emotionen, weit über die Möglichkeiten von Musik und Gesang hinaus, ermöglichen, ohne das Publikum vom Wesentlichen abzulenken.
Musikalisch überzeugt an diesem Abend einmal mehr das Orchester unter der Leitung von Daniel Carlberg. Unter den durchweg ausgezeichnet besetzten Sänger:innen sticht besonders Ragaa Eldin hervor, der seinem Vaudémont zu der ihm gebührenden ergreifenden Emotionalität verhilft. Ein Lob, das so jedoch auch für Adèle Lorenzi-Favart gilt, die hauptsächlich im Dutt zwischen Iolanta und Vaudémont und einer starken Bühnenpräsenz zu glänzen weiß.
Ein besonderer Applaus gilt Dmitry Lavrov, der mit seinem kurzfristigen Einspringen für den plötzlich erkrankten eigentlichen „Robert“, Samuel Chan, die Premiere gerettet hat. Kein leichtes Unterfangen, wie der Generalintendant des Theaters Kiel, Daniel Karasek, unmittelbar vor Beginn der Aufführung erklärt. Eben, weil „Iolanta“ nicht ständig und überall aufgeführt würde, sei es nicht einfach gewesen, innerhalb weniger Stunden für Ersatz zu sorgen.
Wer Tschaikowskis große Liebesgeschichte mit weit mehr Tiefgang, als man zunächst vermuten mag, im Kieler Opernhaus erleben möchte, hat dazu in diesem Jahr noch am 15. Dezember die Möglichkeit. Für 2023 gibt es zahlreiche weitere Termine bis weit in den Mai hinein. Karten zu Preisen ab rund 17 Euro gibt es auf
theater-kiel.de oder telefonisch unter 0431 - 901 901.