Mit einer berührenden und nachdenklich stimmenden Inszenierung zeigt das Theater Kiel ein Stück, das viel zur heutigen Zeit zu erzählen hat.
Herbst 2022. Wir leben in einer Zeit voller Ungewissheit und dafür umso mehr parallel verlaufender Krisen. Klima. Krieg. Energie. Und daran anschließend die Angst vieler um den eigenen wirtschaftlichen und damit einhergehend auch sozialen Abstieg, wenn alles im teurer wird und der oder die einzelne oft nur wenig beitragen kann, um sich ernsthaft zu schützen.
Wir springen 90 Jahre zurück, schreiben also das Jahr 1932. In diesem Jahr nämlich erschien Hans Falladas Welterfolg „Kleiner Mann, was nun?“, in dem er die Auswirkungen der bereits seit 1929 anhaltenden Weltwirtschaftskrise anhand der Geschichte eines jungen Pärchens eindrucksvoll beschreibt. Eine Geschichte von Arbeitslosigkeit, Armut und Elend in der Weimarer Republik. Umstände, die den Aufstieg der Nationalsozialisten mindestens beflügelten, wenn nicht gar überhaupt erst ermöglichten.
In „Kleiner Mann, was nun?“ Begleiten wir Buchhalter Johannes Pinneberg und seine Freundin, die Verkäuferin Emma Morsche, genannt Lämmchen. Die beiden erwarten ein Kind, heiraten spontan und stellen sich auf ein gutes Leben, wenn auch in bescheidenen Verhältnissen ein. Schuldlos verliert Pinneberg seine Arbeitsstelle und das Paar muss die frisch bezogene Wohnung in Ducherow verlassen und ziehen zu Pinnebergs Mutter nach Berlin. Ihn und seine Mutter verbindet nicht viel und so ist auch diese Lösung – ebenso wie Pinnebergs neue Anstellung in einem Warenhaus – nicht von langer Dauer.
Lämmchen und ihr Mann geraten in eine Abwärtsspirale und enden letztlich in einer Gartenlaube, die einem ehemaligen Kollegen Pinnebergs gehört.
Alexandra Liedtkes als Regisseurin gelingt es gemeinsam mit Falko Herold (Bühne) dieses Stück mit einer selten gesehenen emotionalen Gewaltigkeit auf die Bühne des Kieler Schauspielhauses zu bringen. Noch größeren Anteil am Erfolg der Aufführung haben allerdings allen voran Hauke Petersen (seit dieser Spielzeit neu in Kiel dabei) und Eva Kewer in den Hauptrollen. Eindrucksvoll lässt sich an Petersens Pinnberg im Verlauf des Stücks nicht nur dessen Gemütslage, sondern auch der Zustand einer ganzen Nation ablesen. Petersen brilliert in dieser Rolle in allen Facetten – bei den lauten ebenso wie bei den leisen Tönen, in der Euphorie ebenso wie in der Niedergeschlagenheit.
Kewer als Lämmchen an Pinnebergs Seite ist es, die nicht nur seine Stütze ist, sondern auch die des Publikums, wenn es gemeinsam mit Pinnberg in den Abgrund schaut. Kewer ist es auch, die den emotionalen Schlusspunkt des Stücks in einem ergreifenden Dialog, der auch die Schauspielerin selbst nicht kaltlässt, setzt und die Zuschauer:innen be- und gerührt sowie nachdenklich in die Nacht entlässt.
Begleitet werden Petersen und Kewer von einem hervorragenden Ensemble: Agnes Richter, die unter anderem die ebenso groteske wie launige Mutter Pinnebergs spielt. Sebastian Herrmann, der hauptsächlich in seiner Rolle des Jachmann, Mutter Pinnebergs Gliebten, mehr Empathie für das junge Paar zu zeigen versteht, als man der Figur eigentlich zutraut. Rudi Hindenburg, der Pinnebergs einzigen Freund in Berlin gibt, ihm mehrfach aus der Patsche hilft und ihm und Lämmchen immerhin ein Leben in einer Gartenhütte ermöglicht. Sowie Jennifer Böhm, Philipp von Schön-Angerer und Claudia Macht, die mit ihren vielen Rollen das Gesamtkunstwerk erst ermöglichen.
Abgerundet wird die Kieler Inszenierung von „Kleiner Mann, was nun?“ durch Live-Musik von Axel Riemann und Ture Rückwardt und durch Videoeinspielungen eines alten Ehepaars, das in kurzen Interviewschnipseln von der damaligen Zeit erzählt. Vom Verzicht, von persönlichen Katastrophen, vom Abstieg. Und doch ist es dieses Ehepaar, dass die Zuschauer:innen auf ein Happy-End für Pinneberg und Lämmchen hoffen lässt. Denn offenbar ist es auch ihnen gelungen, alle Schicksalsschläge zu überwinden.
„Kleiner Mann, was nun?“ wird in diesem Jahr noch am 27.10, sowie am 4. und 26.11. sowie am 10.12. gezeigt. Karten gibt es auf www.theater-kiel.de oder telefonisch unter 0431 901 901.