Ein misslungener kommerzieller Tauchgang zur Titanic und 600 ertrunkene Geflüchtete aus Libyen in nur fünf Tagen – wieso beide Ereignisse die menschliche Verrohung offenlegen und die mediale Aufmerksamkeit diese befeuert. Die Meinung von Redakteur Sebastian Schulten
Was sind die Gründe dafür, dass Menschen aus einem Land wie Libyen auf einen mehr oder weniger schwimmfähigen Kahn treibt, um auf der Suche nach menschenwürdigen Lebensumständen in ein anderes Land zu „reisen“? Während die Antwort auf diese Frage mit der Angst vor Entführung, Erpressung, Entrechtung beantwortet werden kann, sieht es bei der nachfolgenden schon anders aus: Was treibt Menschen im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte in eine menschenfeindliche Umgebung in circa 3.800 Metern Tiefe unter Wasser, in der sie dem Tod auf mehrfache Weise näher sind als dem Leben? Im Grunde kann dies nur mit touristischer Abenteuerlust beantwortet werden – niedere Beweggründe aus meiner Sicht. Die Rede ist von einem der vielen in den letzten Jahren gestarteten Tauchgänge zum Wrack der 1912 gesunkenen und 1985 wiederentdeckten „Titanic“ mitten im Nordatlantik.
Militär-Nationen setzten alle Hebel in Bewegung
Am Sonntag, den 18. Juni machten sich drei zahlungskräftige Personen sowie ein französischer Wissenschaftler und der Pilot der Tauchkapsel „Titan“ auf den mehrstündigen Weg hinab zum Wrack des Luxusdampfers. Bereits nach anderthalb Stunden brach die Kommunikation zwischen dem Unterseeboot und dem Schiff an der Wasseroberfläche ab. Weitere acht Stunden dauerte es jedoch, bis das Kontaktschiff dies den kanadischen Behörden an Land meldete und um Hilfe bat. Was folgte, war eine Rettungsaktion und ein internationales mediales Echo ungeahnten Ausmaßes. Spezialkräfte zweier Militärnationen suchten zu Wasser und Land unter Hochdruck nach dem havarierten U-Boot, sogar Aufklärungsflugzeuge sondierten die Wasseroberfläche aus der Luft auf einer Fläche so groß wie Mecklenburg-Vorpommern, um die verschollenen Touristen lebend zu bergen. Ein Aufwand, der grotesk vor dem Hintergrund erscheint, dass viel weniger nötig gewesen wäre, um wenige Tage zuvor die Geflüchteten aus dem Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten. Eine anständige, menschenwürdige Asylpolitik zum Beispiel, bei der Menschen in Not bedingungslos und barrierefrei in ein neues Leben geholfen wird.
Niemand will ertrinkende Geflüchtete sehen
Von dem Leid der Menschen, die ihr unwürdiges Leben in ihren Heimatländern zurücklassen und sich der Gefahr aussetzen, gefoltert, versklavt und vergewaltigt zu werden – falls sie von der libyschen Küstenwache an der Flucht gehindert werden – will die verrohte westliche Gesellschaft aber bitte wenig bis gar nichts wissen. Und schon gar nicht inmitten eines fröhlichen Fests während der Kieler Woche. Immerhin rund 150 Demonstrierende fanden sich nach dem Aufruf der Seebrücke Kiel am Weltflüchtlingstag, dem 20. Juni im Kieler Schlossgarten zusammen, um der zunehmenden Entmenschlichung an den europäischen Grenzen entgegenzutreten. Sie sind allerdings nur ein verschwindend geringer Teil während einer Veranstaltung, die bereits nach zwei Tagen rund 1,2 Millionen Besucherinnen und Besucher zählte. Ertrinkende Flüchtende schaffen es bisweilen nur noch selten in die Schlagzeilen. Die Welt hat sich bereits satt gelesen an den wiederkehrenden schlimmen Ereignissen vor den Küsten europäischer Staaten. Anders hingegen verhält es sich mit dem Wrack der Titanic.
Die Titanic „zieht“ nach wie vor
Seit dem Verschwinden der bemannten Tauchkapsel „Titan“ im Nordatlantik rennen die Pressevertreter*innen aus der ganzen Republik Malte Fiebing-Petersen aus Flintbek bei Kiel die Türen ein. Er ist der 1. Vorsitzende des Deutschen Titanic-Vereins und gilt als DER Experte rund um alle Details des gesunkenen Luxusdampfers. In einer Stellungnahme des Vereins heißt es: „Wir beteiligen uns ausdrücklich nicht an den äußerst spekulativen Äußerungen, die leider mittlerweile vermehrt in diversen Medienberichten zu finden sind“.
Medienübergreifend war von angeblichem Stromausfall an Bord die Rede, ein Brand an Bord könnten der Grund für das Verschwinden sein und sogar ein Selbstmord-Kommando schlossen manche Medien nicht aus. Wilde Spekulationen eben. Besonders wundert sich der Fachmann Fiebing-Petersen über eines der auflagenstärksten deutschen Wochenmagazine. Während der Spiegel die Titanic-Expeditionen noch vor zwei Jahren als eines der größten Abenteuer für Privatpersonen in den Himmel lobte, fällt das Wording nach den jüngsten Ereignissen deutlich verhaltener aus: Unverantwortlich und risikobehaftet seien die Trips in fast vier Kilometer Tiefe. Damit haben die Redakteur*innen Recht!
Lebensgefahr bei Titanic-Expeditionen nichts Neues
Wie lebensgefährlich die Tauchfahrten tatsächlich sind, beschreibt Arthur Loibl, Teilnehmer einer Expedition im Jahr 2021 und Mitglied der Deutschen Titanic-Vereins auf der Website der Vereins-Zeitung „Navigator“. Die ganze Unternehmung habe „sehr improvisiert“ gewirkt und nicht sehr vertrauenwürdig. So würden Stabilisatoren an der „Titan“ lediglich mit Kabelbindern befestigt. Erneut würde Loibl nicht in eine Tauchkapsel zur Titanic steigen. Ebenso wenig wie der Kieler Malte Fiebing-Petersen, dessen Antwort auf die Frage vor wenigen Tagen noch anders ausgefallen wäre: „Es war immer mein Traum, einmal zur Titanic zu tauchen und vor zwei Jahren habe ich es ernsthaft überlegt – damals lag der Preis noch bei 100.000 Euro (Anm. d. Red.). Seit Sonntag nicht mehr.“
Hier erfährst du mehr über die Umstände der Tauchfahrt von Arthur Loibl zur Titanic 2021.
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