Die Oper Kiel holt das norddeutsche Familien-Epos von literarischem Weltrang auf die große Bühne.
Wenn ein Roman zur Weltliteratur erklärt wird, ist das in aller Regel ein Garant dafür, dass es sich nicht um leichte Kost handelt. Das gilt auch für Thomas Manns „Buddenbrooks: Verfall einer Familie“ von 1901 für das er 1929 den Literaturnobelpreis erhielt. Auf weit über 1.000 Seiten begleitet man lesend vier Generationen der titelgebenden Buddenbrooks, einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie aus Lübeck, in ihren Niedergang.
Leicht bieten die zwei Bände genug Stoff für gleich mehrere Opern, einen norddeutschen „Ring“ sozusagen. Feridun Zaimoglu und Günter Senkel, die bereits seit 2003 gemeinsam Theaterstücke schreiben, wählten für ihre Herangehensweise an das neu zu schreibende Libretto – die Textvorlage einer Oper – einen gänzlich anderen Ansatz. Nicht nur dampften sie das Familien-Epos (dessen Figuren auf Personen aus Manns eigener Familie basieren) merklich ein, in dem die ersten beiden Generationen weitestgehend ignoriert werden, sondern setzten gleich mehrere Fokuspunkte, die die ohnehin zeitlose Geschichte im Hier und Jetzt noch greifbarer machen.
Maßgeblich trägt dazu auch die Musik von Ludger Vollmer bei. Vollmer, der in der jüngeren Vergangenheit als Komponist für Opern-Umsetzungen von Wolfgang Herrndorfs „Tschick“, Dave Eggers’ „The Circle“ oder Fatih Akins „Gegen die Wand“ in Erscheinung trat, setzt dabei auf eine selbst entwickelte Kompositionstechnik. Hinter F.R.A.M.E. verbirgt sich die „Fast Rythm Advanced Music Experience“, die, kurz gesagt, für „schnell aufeinander folgende, stark akzentuierte Szenen“ steht, wie es im Programmheft zur Oper heißt.
Eine Oper für die Gegenwart
In „Buddenbrooks“ von Vollmer, Zaimoglu und Senkel geben, vielleicht zur Verwunderung mancher Mann-Connaisseur:innen, nicht alte weiß Männer den Ton an. In der zweieinhalbstündigen Aufführung steht nicht vor allem Familienoberhaupt Senator Thomas Buddenbrook (gespielt und gesungen von Kammersänger Jörg Sabrowski) im Mittelpunkt, sondern seine Schwester Antonie „Tony“ (Xenia Cumento) und sein Sohn Hanno (Elmar Hauser). Tony lehnt sich mit verzweifelter Wut gegen die männerdominierte Welt auf und sieht für sich eine ganz andere Rolle als die einer „Magd“, die es zu verheiraten gilt.
Hanno, von dem im Roman erst nach seinem Ableben klar wird, dass er homosexuell war, wird in der Oper zu einer Person auf der Suche nach der eigenen geschlechtlichen Identität und bietet damit gleich mehrere Angriffspunkte für den Pastor Sievert Tiburtius (Matteo Maria Ferretti). Dem kommt in der Oper eine deutlich größere Rolle als in der Mann’schen Vorlage zu. Bewusst, wie Vollmer im Gespräch mit Dramaturg Ulrich Frey erklärt: „Das ist in einer Zeit entstanden, in der ich sehr wütend war – und noch bin – über die Missbrauchsfälle, die in der Kirche öffentlich wurden – auch in der evangelischen übrigens. Deshalb habe ich Tiburtius so akzentuiert und in die Konfrontation mit Hanno geschrieben.“
Auch eine andere Änderung holt die Buddenbrooks auf fast schon unheimliche Weise in unsere Zeit: Haben sie ihr Geld in Manns Roman noch mit dem Getreidehandel gemacht, sind sie in der Oper Waffenhändler.
Harter Stoff auf hohem Niveau
In Sachen gesanglicher Darbietung müssen sich Operngänger:innen in Kiel ohnehin keine Sorgen machen: hervorragende Besetzungen bis in die Nebenrollen gehören hier zum Standard. Was für Gerda Buddenbrook (Tatia Jibladze), Christian Buddenbrook (Michael Müller-Kasztelan), Clara Tiburtius (Clara Fréjacques), Leutnant von Trotha (Gabriel Wernick), Moritz und Herrmann Hagenströms (Konrad Furian und Sven Sevenich) sowie Bendix Grünlich (Oleksandr Kharlamov) gilt, gilt an diesem Abend umso mehr noch für die drei Rollen, die die Oper tragen.
Jörg Sabrowski ist seit Jahrzehnten eine Bank für das Theater Kiel und bringt mit seiner bassigen Stimme eine große Ruhe, wie sie seiner Rolle würdig ist, in die Aufführung. Xenia Cumento gelingt es einmal mehr ihr großes stimmliches Talent mit einer großartig dramatischen, mitreißenden Performance zu kombinieren. Wohingegen es Countertenor Elmar Hauser scheinbar spielend leicht fällt, seinen Hanno als feingeistige, zerbrechliche Person zu interpretieren.
Hinzu kommen die teils in dezenten Kommentierungen, teils in fast schon monumentaler Klanggewalt eingesetzten Chöre (Gerald Krammer), die das Geschehen auf der Bühne mehrstimmig einrahmen.
All das geschieht auf einer beinahe erfreulich modernen und mitreißenden Musik, perfekt umgesetzt durch das Philharmonische Orchester unter Leitung von Benjamin Reiners.
Abgerundet wird ein großartiger Abend durch ein nur als imposant zu bezeichnendes, an das Buddenbrook-Haus angelehntes Bühnenbild von Lars Peter, sowie vielfältige und interessante, jedoch gleichzeitig angenehm zurückhaltende Kostüme (Claudia Spielmann).
Vollkommen zu Recht wurden sämtliche Mitwirkende (unter der Regie von Daniel Karasek) mit teils frenetischem Jubel und stehenden Ovationen bedacht.
Wer die fantastische Neuinterpretation des Weltromans aus Schleswig-Holstein selbst live erleben möchte, hat dazu noch an sechs Terminen im Mai, Juni und Juli 2024 die Gelegenheit. Tickets gibt es unter theater-kiel.de, telefonisch unter 0431 – 901 901 oder an allen Vorverkaufsstellen des Theater Kiel.
Wer tiefer einsteigen möchte in die Geschichte der Buddenbrooks und in das Leben Thomas Manns (sowie seines Bruders Heinrich, ebenfalls ein erfolgreicher Schriftsteller, u. a. „Der Untertan“), hat leider gerade etwas Pech: Das Buddenbrookhaus in Lübeck ist wegen Renovierungsarbeiten noch bis voraussichtlich 2028(!) geschlossen. Zahlreiche Exponate sind bis dahin allerdings im Museum Behnhaus zu finden.