Früher eilte Bonn als Bundeshauptstadt der Ruf einer miefige Beamtenstadt voraus. Dabei ist Bonn so gemütlich und charmant, dass sich KIELerLEBEN-Redakteur Olaf Ernst fast wie zuhause fühlte.
Dank einiger Baustellen hatte ich einen sechsstündigen Roadtrip von Kiel über die A1 hinter mir. Zum ersten Mal hatte ich mich nach Bonn aufgemacht, um meine langjährige Freundin Kristina zu besuchen. Das Navi sagte mir, noch 750 Meter bis zum Ziel, als sich vor mir die Schranken eines Bahnübergangs schlossen. „Na ja, die paar Minuten machen den Kohl auch nicht fett“, dachte ich mir. Es dauerte einige Minuten bis der erste Zug passierte, kurz danach ein zweiter. Jetzt werden die Schranken wohl hochgehen. Nein, es folgte noch ein Zug, und noch einer, und kurz bevor ich nach einer Viertelstunde wenden wollte, öffneten sich doch noch die Schranken. Willkommen in Bonn!
„Bonner wissen, dass man den umfahren muss“, sagte Kristina, als ich angekommen war. „Jetzt weiß es auch ein Kieler“, entgegnete ich, und da wir uns gleich wieder – per Fahrrad – in die Stadt aufmachten, zeigte sie mir gleich die Brücke, die jegliches Warten erspart hätte. Wir fuhren die Friedrich-Ebert-Allee entlang, die auf einmal Willy-Brandt-Allee hieß und am Bundeskanzlerplatz in die Adenauerallee mündete. Schon nach nicht mal einer Stunde wurde deutlich, dass Bonn mehr als nur eine 330.000 Einwohner zählende Stadt im Südwesten Nordrhein-Westfalens ist. Bis Mitte der 1990er war Bonn das meistgenannte Wort der Tagesschau, Vorgänger Berlins, kurz und knapp Bundeshauptstadt.
Das ist noch heute deutlich erkennbar, obwohl die Wiedervereinigung zugleich das Ende der „Bonner Republik“ war. Am 20. Juni 1991 entschied der Bundestag den Umzug des Regierungssitzes von Bonn nach Berlin. Zurück blieb ein noch immer repräsentatives Regierungsviertel. „Wer dachte, Bonn wäre nach dem Umzug der Regierung zur Geisterstadt geworden, der irrt sich“, sagt Kristina und zeigt mir Beispiele. So ist das Bundeshaus mittlerweile ein Kongress-Zentrum, der Schürmann-Bau Sitz des Radio-Senders Deutsche Welle. Im früheren Abgeordnetenhaus, dem „Langen Eugen“, arbeiten die Vereinten Nationen, und in Hamburgs ehemaliger Landesvertretung und der früheren SPD-Parteizentrale werden Pizza und Pasta verspeist. Außerdem haben sechs von 15 Ministerien hier noch immer ihren Hauptsitz und mehr als 9.100 Bundesbedienstete ihren Arbeitsort – 400 mehr als in Berlin.
Nach dem kurzen Trip durch die Stadt kommen wir an den Rhein. Bonn gefiel mir bis dahin schon besser und als wir am Wasser angekommen waren, fühlte ich mich fast wie zuhause. Die Fahrräder schiebend gingen wir die Rheinauen entlang. Mein Blick schweifte über den knapp 400 Meter breiten Rhein und fiel auf Berge. „Bonn liegt zwischen der Eifel und dem Siebengebirge, das du dahinten siehst. Aber lass uns jetzt was essen!“, sagte Kristina und bog auf einmal links auf eine steile Treppe ab. Wir waren am Alten Zoll angekommen, einem gemütlichen Biergarten oberhalb des Rheins mit vielen rheinischen „Leckereien“ auf der Speisekarte. Ich entschied mich für „Himmel un Äd“, gekochte Kartoffel- und Apfelwürfel mit Bratwurst. In Kiel wäre nach dem deftigen Essen ein Korn als Verteiler fällig gewesen. Nicht so in Bonn, Kristina bestellte zwei Eierlikör, den Verpoorten seit 1948 in Bonn im Prinzip für die ganze Welt produziert. Vor dem „Wohlsein!“ noch ein kleines Quiz: „Wie viele Eier braucht man für eine Flasche?“ Auf mein Schweigen folgte: „Elf. Am Tag werden in der Fabrik bis zu 1,3 Millionen Eier verbraucht, und früher haben Studenten diese aufgeschlagen.“ Na dann, Prost!
Frisch gestärkt schoben wir wieder Richtung Innenstadt, als mir viele Menschen mit dem Telekom-Logo auf der Brust auffielen. Gut, die Telekom hat ihren Sitz in Bonn, aber eine derart hohe Identifikation mit dem Arbeitgeber? „Nein, was in Kiel der THW ist, sind in Bonn die TBB. Wir haben ja auch keinen höherklassigen Fußballverein, sind aber glücklich, dass wir mit den Basketballern wenigstens in einer anderen Sportart Erfolg in der Stadt haben – auch wenn sie noch nie Deutscher Meister waren“, sagte Kristina, während wir an der Friedrich-Wilhelms-Universität vorbeischlenderten und zu einem imposanten Gebäude mit vielen goldenen Verzierungen gelangten. Das Alte Rathaus wurde 1724 gebaut und vor zwei Jahren frisch saniert. Wir brauchten wieder nur ein paar Schritte und standen vor der nächsten architektonischen Sehenswürdigkeit, dem Bonner Münster aus dem 11. Jahrhundert.
Bonn gefiel mir mittlerweile richtig gut. Wie Kiel eine Großstadt, aber nicht zu groß. Mit dem Fahrrad erreicht man binnen 20 Minuten nahezu alles, was das Herz begehrt. „Was gefällt dir und stört dich am meisten an Bonn?“, fragte ich Kristina. „Mir gefällt die Nähe zur Natur und das gemütliche Flair. Ein lebendigeres Nachtleben könnte Bonn haben. Apropos: Was hältst du von einem Bönnsch als Absacker?“ Bönnsch? Kristina führte mich in das Brauhaus Bönnsch am Friedensplatz. Bislang kannte ich nur Kölsch, doch im gleichnamigen Brauhaus verköstigten wir einige süffige Bönnsch in eigens dafür angefertigten Gläsern. Übrigens: Kölsch und Bönnsch sind beides nicht nur Gerstensäfte, sondern auch Dialekte. Das Bönnsche geht noch mehr in Richtung „Singsang“, ist aber leider kaum noch zu hören.
Das Bonner Münster
Auf dem Heimweg besprachen wir noch die weiteren Tage meines Aufenthalts. Natürlich müsse Kristina mit mir noch zum Haribo-Outlet. Da gäbe es einen Vier-Kilogramm-Karton „Bruchware“ der leckeren Gummisüßigkeiten für 4 Euro – das wäre doch ein schönes Mitbringsel. Dann würden noch die Museumsmeile, das Poppelsdorfer Schloss aus dem 18. Jahrhundert und das Beethovenhaus warten. Schließlich kam „Ludwig van“ hier 1740 zur Welt. Zwischendurch könnten wir in einem der vielen Parks chillen. Aber wir könnten auch noch jede Menge besichtigen, schließlich ist Bonn ja eine Stadt mit einer mehr als 2.000-jährigen Geschichte und habe daher viele Sehenswürdigkeiten. In diesem Moment passierten wir die beschrankte Geduldsprobe, aber um kurz nach Mitternacht brauste nicht mal ein Zug darüber. Und plötzlich war ich ganz froh, den Bahnübergang nicht umfahren zu haben. Denn dieser wird dank seiner phänomenal langen Wartezeiten gewiss auch in die 2.000-jährige Geschichte der Stadt Bonn eingehen.