Das Theater Kiel startet mit einer eindrucksvollen und beklemmenden Inszenierung von Gerhart Hauptmanns Meisterwerk in die neue Spielzeit.
Hauptmanns großes Drama basiert auf wahren Begebenheiten. Er selbst war nämlich in der Zeit, bevor er das Stück vom Frühjahr bis zum Herbst 1903 verfasste, als Geschworener tätig und hatte über einen schockierenden Fall zu entscheiden. Den der 25-jährigen Kindsmörderin Hedwig Otte. Tief berührt von ihrem Schicksal urteilten die Geschworenen letztlich „nicht schuldig“. Eine erste Fassung von „Rose Bernd“ bringt Hauptmann noch am Verhandlungstag zum Diktat und so entsteht das Drama gut 10 Jahre nach „Die Weber“ (im vergangenen Jahr am Theater Kiel zu sehen) und knapp acht Jahre vor „Die Ratten“, den anderen beiden Hauptmann-Werken, die sozusagen zum Pflichtprogramm für (deutsche) Theaterinteressierte gehören.
In „Rose Bernd“ begegnen wir zunächst der 22-jährigen titelgebenden Protagonistin (gespielt von Claudia Friebel), die das zweifelhafte Vergnügen hat, gleich von mehreren Männern umworben zu werden: August Keil (Tony Marossek), der bereits ihr Verlobter ist, dem etwa vierzigjährigen Dorfschule Christoph Flamm (Felix Zimmer) und dem Maschinisten Streckmann (Marius Borghoff).
Die Haupthandlung ist schnell erzählt: Rose hat ein Verhältnis mit Flamm und wird schwanger. Von Streckmann wird sie vergewaltigt. Dann ist da noch ihr Vater (Nikolaus Okonkwo), der sie immerhin nicht körperlich begehrt, sie allerdings in seiner religiösen Strenge ebenfalls zunehmend bedrängt, weil Rose die Hochzeit mit August für sein Empfinden zu weit hinauszögert.
Als Rose all diese Zumutungen nicht länger aushält, endet das Stück mit einem erschütternden Monolog, in dem Rose all den hinter ihr aufgereihten Personen entgegenschreit, sie zu hassen – und dass sie ihr Kind erwürgt habe, auf dass es nicht gleichen Qualen durchleide, wie sie.
All das und die vielen feinen Details dazwischen inszeniert Annette Pullen in verdichteter (das Ensemble kommt mit rund 90 Minuten aus), deshalb jedoch keineswegs weniger eindrücklichen Form auf einer schmucklosen, ständig im Dunkeln gehaltenen Bühne (Iris Kraft).
Leuchten, das tun an diesem Abend nur die Schauspieler:innen. Friebels Rose ist im eruptiven Finale genauso glaubwürdig und energiegeladen wie im Streit und Kampf mit Streckmann, im Liebesspiel mit Flamm oder im Gespräch mit dessen Frau Henriette (Isabel Baumert).
Neben den Frauen, zu denen auch Roses Schwester Marthel (Nina Vieten) gehörten, ist überhaupt nur August, den Marossek über weite Strecken mit angemessen kühler Zurückhaltung spielt, die einzig andere halbwegs sympathische Figur auf der Bühne. Zimmers Flamm, von vornherein zwar trefflich als übergriffig dargestellt, offenbart seinen Charakter hingegen erst im Verlauf des Stücks, als wir ihn gemeinsam mit seiner Frau und vor allem auch nach Kenntnis um Roses Schwangerschaft erleben. Streckmann ist – und das ein großer Verdienst Borghoffs – schon verachtenswert, noch bevor er das erste Wort auf der Bühne spricht.
Gerhart Hauptmanns Drama spiegelt die begrenzten Möglichkeiten wider, die Frauen in dieser Zeit und in dieser Gesellschaft hatten. Darüberhinaus thematisiert es die Fragen von Schuld, Verantwortung und die harten Konsequenzen von gesellschaftlicher Ächtung und ist in dieser Hinsicht aktueller, als man es sich wünschte.
Die komplexe Charakterzeichnung, besonders die von Rose, und die präzise Darstellung der sozialen Verhältnisse machen das Stück zu einem bedeutenden Werk im Kanon des deutschen Theaters.
Am Kieler Schauspielhaus ist das Stück noch an zahlreichen Abenden im September, Oktober, November und Januar zu sehen. Die nächste Gelegenheit bietet sich direkt am heutigen Samstag, den 23.09.2023. Karten gibt es wie immer unter theater-kiel.de, telefonisch unter 0431 901 901 und an den Vorverkaufskassen des Theaters.